Sankt Falstaff
von Ewald Palmetshofer frei nach Shakespeares KING HENRY IV
Regie: Tilmann Köhler
ca. 210 Minuten eine PauseDer Staatsstreich ist geglückt. Multiple Krisen und von langer Hand geplante Umsturzszenarien haben die alte Regierung weggefegt. Wie ein Quasi-König regiert Heinrich Bolingbrock, vom Volk Heinz genannt, mit seinen Gefolgsleuten das Land. Doch Heinz ist alt und krank und es ist kein geeigneter Nachfolger in Sicht. Im Schatten dieser strauchelnden Herrschaft versucht sich John Falstaff in Frau Flotts Containerkneipe die Gegenwart schön zu trinken. Mit seinem Freund Harri, dem Sohn des Quasi-Königs, schlägt er sich die Nächte um die Ohren. Bei ihm hofft John, die ersehnte Liebe und Zuneigung zu finden, die ihm schon so lange fehlt. Als Harri jedoch aus dem Zentrum der Macht ein unmoralisches Angebot erreicht, wirft das nicht nur auf die Zukunft des Staats, sondern auch auf Johns Beziehung zu Harri ein neues Licht.
William Shakespeares Figur Sir John Falstaff gehört zu den schillerndsten Gestalten der Weltliteratur. In »Heinrich IV.« und »Die lustigen Weiber von Windsor« erscheint Falstaff als Lebemann, Trunkenbold, Lügner und Opportunist – und doch ist er weit mehr als eine komische Nebenfigur. Falstaff besitzt eine außergewöhnliche Menschlichkeit: Er ist warmherzig, lebenszugewandt, humorvoll und zutiefst emphatisch. Seine Fehler sind menschlich, seine Schwächen nahbar, und sein unbändiger Lebenswille wirkt wie ein Gegenbild zur kalten Welt der Machtpolitik, in der er sich bewegt. Als Prinz Hal König wird, wendet sich dieser von seinem alten Freund ab. Die Entscheidung ist politisch klug und menschlich kalt. Der Abgesang auf Falstaff markiert den Sieg der Staatsraison über das Persönliche, der Macht über das Mitgefühl. Shakespeare zeigt damit schon vor Jahrhunderten, wie gefährdet das Menschliche in einem System ist, das Stärke belohnt und Empathie bestraft.
Diese Thematik greift Ewald Palmetshofer in seinem Stück Sankt Falstaff auf und rückt sie mitten in unsere Gegenwart. Sein Falstaff ist kein Ritter mehr, sondern ein Außenseiter in einer kapitalistisch beschleunigten, sozial zersplitterten Gesellschaft. Auch er sehnt sich nach Nähe, nach Verbindung, nach einem anderen Umgang miteinander. Doch gerade das macht ihn zum Fremdkörper. In einer Welt, in der Profit über Prinzipien steht, Individualismus über Solidarität und digitale Selbstdarstellung über echter Begegnung, erscheint Falstaffs Menschlichkeit fast schon radikal.
Der gesellschaftspolitische Kern beider Falstaff-Figuren ist damit hochaktuell: Was passiert mit einem Menschen, der sich weigert, zynisch zu werden? Der sich nicht anpasst, nicht optimiert, nicht ausbeutet, weder andere noch sich selbst? In einer Zeit, in der psychische Belastungen zunehmen, das Soziale brüchiger wird und kollektive Solidarität schwindet, wirkt Falstaff fast wie ein Heiliger, der zeigt, dass Menschlichkeit keine Schwäche ist, sondern vielleicht die letzte echte Hoffnung.