Björks VESPERTINE als klangliches Experiment

Von Pop zu Oper

Auf ihrem Album VESPERTINE entwirft Björk eine feine, fast intime Klangwelt und fängt damit die Gefühlswelt einer Frau ein, die, von der Außenwelt abgeschnitten, neue Stufen der Wahrnehmung erreicht. 2018 wurde dieses Album zur Partitur einer Oper für Solisten, Chor und Orchester, die am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt wurde. In Bonn gestaltet das Künstlerkollektiv Kommando Himmelfahrt, das bereits 2018 das Projekt konzipiert und in die Wege geleitet hatte, die Bildwelt und den erzählerischen Rahmen dieser Pop-Oper.

Auf der Bühne des Bonner Schauspielhauses entfaltet sich eine mysteriöse, unheimliche Geschichte im Stil eines nordischen Film Noir. Eine Wissenschaftlerin zieht sich in eine abgelegene Forschungsstation im Norden Kanadas zurück, um dort die so genannte Chronic Wasting Disease zu untersuchen – eine tödliche Erkrankung bei Hirschen. Kurz nach ihrer Ankunft wird ihr bewusst, dass sie schwanger ist. Nach der Geburt wächst ihr Kind in der Abgeschiedenheit auf, während für seine Mutter die Grenzen zwischen Realität und Traum, Erinnerung, Zukunft und Vergangenheit zunehmend verschwimmen. Eines Tages erscheint in der Nähe der Station ein Mann, der auf rätselhafte Weise zu einer Vaterfigur für ihren Sohn wird, während sie selbst für ihn eine seltsame Faszination empfindet. Tag für Tag offenbaren sich neue Geheimnisse – bis dieser Aufenthalt schließlich für die Wissenschaftlerin und ihren Sohn in einer Katastrophe mündet

Als Björk 2001 VESPERTINE veröffentlichte, markierte das eine radikale Neuausrichtung in ihrer Karriere. Sie entfernte sich von der in den 1990er-Jahren populären Bassdrum und tauchte in eine orchestrale Klangwelt ein, in der Chöre, Violinen und experimentelle Elektronik mit Zeena Parkins’ Harfenspiel verschmolzen. Björk wandelte sich von der Bandmusikerin zur Komponistin, auch wenn ihr wichtigstes Instrument weiterhin das Notebook blieb. VESPERTINE war ein kompromissloses Konzeptalbum, das sich jeder kommerziellen Erwartung entzog. Im Zentrum stand Björks unverwechselbare Stimme – der Ausgangspunkt für sinfonische Ausbrüche und intime Klanglandschaften. Gerade diese Kompromisslosigkeit machte das Werk für das Komponistenkollektiv Himmelfahrt Scores so faszinierend. Roman Vinuesa, Peter Häublein und Jan Dvořák – drei Musiker aus den Bereichen Film, Neue Musik und Musiktheater – verband von Anfang an eine gemeinsame Bewunderung für Björk. Sie setzten es sich zum Ziel, das Popalbum in eine Partitur für Orchester und Operngesang zu übersetzen. Doch gerade der viel bewunderte, »schwebende« Gesang Björks stellte sich als Herausforderung dar. Jedes Detail musste akribisch herausgehört werden, um eine präzise Notation zu ermöglichen. Gleichzeitig entstand eine »Dramaturgie der Stimmen«, die mit Naturgeräuschen und Zwischenspielen arbeitete.

Um Björks Mehrspurtechnik nachzuahmen, wurde ein Vokalensemble aus vier Solisten und zwei Chören entwickelt (in der Bonner Fassung ausschließlich mit dem Damenchor). Erste Testaufnahmen bewiesen, dass ihr Gesang sich in den klassischen Kontext überführen ließ, ohne seine Essenz zu verlieren. Was einst ein avantgardistisches Popalbum war, verwandelte sich in ein Bühnenwerk, das die Grenzen zwischen Pop, Oper und Klangkunst aufhob. Durch die Beteiligung des renommierten Kölner Orchesters Ensemble Musikfabrik, das sich als Spezialist für experimentelle Musik erwiesen hat, erhält dieser Abend in Bonn eine besondere klangliche Qualität.

Text von Polina Sandler

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