Rebellion im Arbeiter- und Bauern-Staat
„Die Punkszene schockte die DDR-Bürger und -Regierung gleichermaßen, da sie sich Freiheiten nahm [...]“
„Lychener Straße im Prenzlauer Berg, 1982. Es spielen mehrere Bands. In der Mitte der abgewrackten Altbauwohnung sitzt „Locke“ (16) auf einer Leiter und versucht, mit einem Walkman die Musik aufzunehmen. Drei andere verteidigen den Kanonenofen gegen die Pogotänzer. Die Musiker spielen laut, wütend, falsch und mitreißend. Sie schreien dem jungen Publikum aus der Seele.“ So beschreibt im Jahr 2008 eine Abhandlung der Bundeszentrale für politische Bildung Bonn, die sich mit jugendlichem Widerstand in Ostdeutschland beschäftigt, eine Szene, die sich Mitte der 1980er Jahre in Ost-Berlin abspielte. So ähnlich beschreiben es auch die Szenen von Sascha Hawemann, der in eben dieser Stadt und dieser Zeit aufgewachsen ist und nun mit NOVEMBER seinen ersten Theatertext als Autor und Regisseur auf die Werkstattbühne bringt. November, die Anmutung und Empfindung dieses Herbstmonats konturiert in Hawemanns Text nicht nur zentrale Momente deutscher und europäischer Geschichte, sondern färbt auch die Erinnerungen dreier Freunde. Sie sind zunächst noch Jungen, später Männer, und werden in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in Berlin, Hauptstadt der DDR, erwachsen. Sie sind Teil einer Gegenkulturbewegung – sie sind Punks – und als solche den staatlichen Organen des später untergegangenen Landes höchst verdächtig. Deren Ziel war es, „allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeiten“ heranzuziehen, die ihrem Vaterland treu ergeben sind. Dessen einstige Utopie empfinden die Jugendlichen längst zur permanenten politischen Phrasendrescherei verkommen, die ihnen durch Propaganda eingetrichtert werden soll. „Seid bereit. Immer bereit.“ So entstand stattdessen in den 80er Jahren eine neue Art der Jugendkultur, die auf Unverständnis und Misstrauen der Erwachsenen traf und immer weiter wuchs, obwohl ihre Mitglieder ein großes Risiko für Bestrafungen eingingen. Punk war auch politischer Widerstand: für Aufsehen sorgen, auf Missstände aufmerksam machen und die Regierung kritisieren. Man traf sich deshalb nicht nur in den eigenen – besetzten – Unterkünften, sondern auch in der Öffentlichkeit und auf den Straßen, wo das normale Bürgertum mit den Rebellen konfrontiert wurde. Die Musik wurde für die Jugendlichen zu einem wichtigen Bestandteil, einer Art Sprachrohr für ihren inneren und äußeren Aufruhr. Es entstanden erste Bands in der Szene mit Namen wie „Planlos“ oder „Schleimkeim“; schrille Gitarren, wenige Akkorde, grölender Gesang. Durch die Liedtexte wurde Kritik geäußert und verbreitet und die Anhängerschaft unterhalten. Die Punkszene schockte die DDR-Bürger und -Regierung gleichermaßen, da sie sich Freiheiten nahm und ihre Bedürfnisse offen auslebte, was bis dahin unvorstellbar war. Eine wilde Gegenkultur begann zu blühen, die den Staat das Fürchten lehrte. Natürlich reagierte dieser entsprechend: mit Disziplinierungsmaßnahmen, Demütigungen und Gewalt. Vor allem das Ministerium für Staatssicherheit versuchte, hart gegen die „dekadente“ Szene „durchzugreifen“. Das erfahren auch die drei Freunde in Hawemanns Theatertext. Doch dieser berichtet auch vom Glück und der Erfahrung einer ersten großen Liebe im alljährlichen Urlaub einer weit verzweigten Familie in Ex-Jugoslawien, der Heimat der Mutter eines der Freunde. Eine lange Liebesgeschichte beginnt, die durch den ausbrechenden Bürgerkrieg in dem Balkanstaat keine Fortsetzung findet. Hawemanns Text fixiert die Erlebnisse einer Generation zwischen Stillstand, Aufbruch und Bürgerkrieg und der sich wiederholenden Erfahrung der Notwendigkeit zur gesellschaftlichen Anpassung in „der schönen neuen Welt“ der Bundesrepublik.
Text: Carmen Wolfram