Heinrich von Kleists MICHAEL KOHLHAAS im Schauspielhaus

Was ist gerecht?

True-Crime-Formate haben Hochkonjunktur. Ob auf Netflix, in Romanen oder Podcasts – wir sind von Straftaten schokkiert, empört, aber auch fasziniert. Wir fragen uns, was einen Menschen dazu bringt, einen anderen zu verletzen, zu töten. Lesen wir von einem Verbrechen, interessiert uns aber vor allem eines: Hat der Täter seine gerechte Strafe bekommen? Das Bedürfnis nach Bestrafung und der Wunsch nach Gerechtigkeit ist im Menschen tief verwurzelt. Doch warum ist es uns so wichtig, dass andere für ihr Fehlverhalten sanktioniert werden? Würde es nicht genügen, beispielsweise einem Dieb ein erbeutetes Portemonnaie wieder abzunehmen und dem Opfer zurückzugeben? Wäre das nicht gerechter, als den Dieb darüber hinaus noch mit einer Geldstrafe zu belegen? Schließlich wird mit der Strafe nicht nur der Status quo wiederhergestellt, sondern dem Täter ein weiteres Übel auferlegt. 

Doch unser Gerechtigkeitssinn verlangt, den Täter nicht straflos davonkommen zu lassen. Wer die Rechtsgüter eines anderen verletzt, der überdehnt die eigene Freiheit zu Lasten eines anderen.

Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht und das Recht macht durch die Strafe deutlich, dass es den Verstoß gegen die gemeinsame Ordnung nicht akzeptiert. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat das die »Negation der Negation« genannt – der Täter verneint das Recht, und das Recht muss diese Verneinung wiederum verneinen, um seine Geltung zu bewahren.

Das klingt abstrakt, hat aber einen ganz greifbaren Kern: Straftaten erschüttern unser Vertrauen in andere Menschen, in unsere Sicherheit und in unser Recht. Die Bestrafung des Täters stellt den Glauben an eine gerechte Welt wieder her und schenkt die Gewissheit, dass der Staat das Handeln des Täters verurteilt und sich auf die Seite des Verletzten stellt. Jan Philipp Reemtsma, der 1996 entführt und erpresst wurde, hat diese Funktion der Strafe ganz richtig beschrieben: Der Staat muss dem Opfer bestätigen, dass ihm nicht ein bloßes Unglück widerfahren ist, sondern Unrecht. Wie aber damit umgehen, wenn ein eindeutiges Unrecht nicht als solches anerkannt wird? Wenn ein klarer Verstoß vorliegt, dem aber rechtlich nicht oder nur unzureichend nachgegangen wird? In dieser Situation befindet sich der Pferdehändler Michael Kohlhaas in Heinrich von Kleists gleichnamiger Novelle.

Es beginnt alles ganz harmlos. Kohlhaas begibt sich mit zwei seiner besten Pferde auf eine Reise von Brandenburg nach Sachsen. An der Grenze fordert ihn der Schlossvogt des Junkers Wenzel von Tronka überraschend auf, einen Passierschein zu lösen, sonst dürfe er nicht weiterreisen. Kohlhaas verpflichtet sich, den Schein nachzulösen. Als Pfand jedoch muss er seine beiden Rösser beim Junker hinterlassen. In Dresden erfährt Kohlhaas jedoch, dass ein solcher Passierschein gar nicht existiert, die Einbehaltung der Pferde also bloße Willkür eines Vertreters der Oberschicht war. Und als Kohlhaas seine Pferde beim Junker abholen will, findet er sie halbverhungert vor. Obwohl er getäuscht, beleidigt und gedemütigt wurde, glaubt Kohlhaas noch an das Recht, das ihn vor derartigem Unrecht schützen soll und reicht beim sächsischen Kurfürsten Beschwerde ein.

Er verlangt, seine Pferde in ihrem ursprünglichen Zustand zurückzubekommen und einen Ersatz des Schadens, den er erlitten hat. Doch er wird monatelang hingehalten, obwohl die Rechtslage auf seiner Seite und vollkommen klar ist. In Dresden wird seine Klage jedoch abgewiesen. Der Grund: die Adligen Hinz und Kunz, Verwandte des Junkers und hohe Beamte am sächsischen Hof, haben interveniert. Kohlhaas wendet sich an seinen Landesherren, den Kurfürsten von Brandenburg. Es folgt der nächste Schlag. Statt Unterstützung zu bekommen, wird ihm Querulantentum vorgeworfen und die Klage erneut abgewiesen.

Trotz dieser abermaligen Zurückweisung gibt Kohlhaas nicht auf. Er rebelliert gegen die Obrigkeit, die, seiner Meinung nach, das Recht beugt und ihm als Bürger den Schutz der Gesetze versagt. Er sucht sich Mitstreiter für seinen Kampf, der schließlich in Gewalt und bürgerkriegsähnlichen Zuständen eskaliert.

Die Frage nach dem Rechtsgefühl, d. h. danach, ob Kohlhaas ein rasender Rächer ist, der sich durch seine Selbstrache weit jenseits des Rechts stellt, oder ob er gerade ein Rechtskämpfer ist, der bereit ist, sein Leben für sein Rechtsgefühl zu opfern, ist eine Frage, die die literaturwissenschaftliche Kontroverse über die Kleist’sche Erzählung weitgehend strukturiert. Denn Kohlhaas rächt sich nicht einfach für die erlittenen Beleidigungen und ungesetzlichen Gewalttaten, sondern er besetzt die angesichts der ihm angetanen Rechtsweigerung und Beleidigungen vakante Position des Rechts, um das fehlende Recht wieder herzustellen. Kleist stellt mit seinem Text die Frage, ob es ein Recht auf Widerstand gegen die Staatsgewalt gibt, wenn der Staat den Gesellschaftsvertrag von seiner Seite aus bricht. Er fragt, wo dieses Recht beginnt und wo es endet und beschreibt den schmalen Grat zwischen legitimem Widerstand und entgrenzter Rebellion.

Aber vor allem wollte er mit seinem Text auf strukturelle Missstände aufmerksam machen. Wenn man davon ausgeht, dass Recht immer politisch ist, Recht also geronnene Politik ist, das Ergebnis von politischem Ringen und von Machtverhältnissen, dann muss man davon ausgehen, dass mit dem politischen System etwas grundsätzlich nicht stimmt, wenn Bürger eines Staates sich nicht anders zu helfen wissen, als sich mit Selbstjustiz Recht und Genugtuung zu verschaffen. Michael Kohlhaas ist ein Gedankenexperiment, ein Symbol dafür, was schieflaufen kann, wenn Menschen das Vertrauen in den Staat und seine Ordnung verlieren. Und welchen Wert es hat, dieses Vertrauen zu gewinnen und stabil zu halten; in Kleists Gesellschaftssystem des 18. Jahrhunderts genauso wie in unserer hart erkämpften, nie als selbstverständlich zu nehmenden Demokratie.

Text von Nadja Groß.