Istanbul
Interview mit Regisseur Roland Riebeling über seine neue Produktion ISTANBUL
Stellen wir uns Folgendes vor: Das Wirtschaftswunder fand nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in Deutschland, sondern in der Türkei statt, und deutsche Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen halfen, die Türkei wiederaufzubauen. Nicht Bonn war die Stadt, die die Neuankömmlinge willkommen hieß, sondern Istanbul. Mit einer bestechend simplen Umkehrung der Perspektive wird in ISTANBUL die tragikomische Lebensgeschichte des Bonner Gastarbeiters Klaus Gruber in der fremden und schillernden Metropole erzählt. In deutschen Spielszenen wird der Auswandereralltag erlebbar, während auf Türkisch die Sehnsucht nach Glück, Liebe und Heimat besungen wird. Dabei stehen im Zentrum die Lieder von Sezen Aksu, der Königin des türkischen Pop, die drei Generationen der türkischen Gesellschaft weltweit begleiten. Regie führt Roland Riebeling, der im Vorfeld einige Fragen zur Produktion beantwortet hat.
Das Stück funktioniert nach dem „was wäre wenn“-Prinzip – glaubst Du, dass diese Umkehrung der Verhältnisse zum Verständnis der Geschichte der Gastarbeiter beiträgt?
Ja, ich hoffe sehr. Das begleitet uns ja noch immer. Selbst wenn es 60 Jahre her ist, gibt es erschreckenderweise noch immer zu wenige Berührungspunkte, was wir, wie ich finde, unbedingt aufholen müssen. Mit diesem Theaterabend ist das möglich. Man kann gemeinsam als deutsches und türkisches bzw. deutsch-türkisches Publikum eine Geschichte erleben, die zu uns allen gehört. Es stimmt, dass wir sehr lange nebeneinanderher gelebt haben, und das ist, glaube ich, in vielen Fällen noch immer so. Humor ist dabei wahrscheinlich eine ganz gute Möglichkeit, leichter an die Thematik heranzugehen. Man packt sich mal als Deutscher an die eigene Nase und betrachtet das Ganze nicht aus der Vogelperspektive, sondern fragt sich: Wie würde ich eigentlich handeln, wenn ich eine Sprache absolut nicht verstehe, wenn ich plötzlich in ein Land und eine Kultur katapultiert werde, die in weiten Teilen sehr unterschiedlich ist, zu dem, was ich kenne. Es gab ja auch niemals eine Eingewöhnungsphase, sondern plötzlich musste man in einem fremden Land funktionieren. Als Ruhrgebietskind mit verschiedenen kulturellen Wurzeln liegt es mir nah, diese Geschichten zu erzählen.
Istanbul ist ein Liederabend – als wie wichtig schätzt Du die verbindende Kraft von Musik ein?
Da kann ich etwas sehr Kluges von Goethe zitieren: „Die Musik steht so hoch, dass kein Verstand ihr beikommen kann, aber sie alles beherrscht.“ Das finde ich so schön – Musik ist eben nichts Intellektuelles, sondern hat immer mit dem Herzen zu tun. Musik verursacht sofort Emotionen, und es wird Songs geben, die muss ich überhaupt nicht verstehen, aber ich werde weinen oder ich werde lachen müssen oder ich fange einfach an, mit zu klatschen, mit zu wippen oder stehe sogar aus dem Sitz auf und feiere den Moment mit allen anderen. Musik schafft es, ein unglaublich starkes Gemeinschaftsgefühl auszulösen. Und dafür muss man nicht unbedingt die Worte der Lieder kennen.
Du hast in der Bochumer Inszenierung von ISTANBUL selbst Klaus Gruber gespielt – wie hast Du die türkischen Texte der Songs gelernt, wie geht man da dran?
Ich habe mir sagen lassen, dass Mirreile Matthieu, die kein Wort Deutsch konnte, aber auf deutsch gesungen hat, es genauso gemacht hat: vorsprechen, nachsprechen, vorsprechen, nachsprechen. Es ist ja so, dass gerade die türkische Sprache ganz extrem anders als die deutsche ist, was Aussprache, Alphabet oder Laute angeht. Es gibt kaum Referenzpunkte; wenn man kein Spanisch spricht, gibt es dennoch Wörter, deren Bedeutung man erschließen kann. Dies kann man im Türkischen kaum leisten. Glücklicherweise konnte unser musikalischer Leiter, Torsten Kindermann, den wir jetzt auch in Bonn dabei haben, ganz gut Türkisch, genauso wie die türkische Regisseurin Selen Kara. Natürlich hat jede und jeder von uns immer gewusst, was das Lied, das wir singen, inhaltlich bedeutet und was die einzelnen Worte des Liedes sind, aber ich könnte auch nach über fünfzig Vorstellungen bis heute nicht einen einzigen anderen Song singen, als meine eigenen.
Die Figur Ismet sagt im Stück: „auf die deutsch-türkischen Bande“. Würdest Du sagen, ISTANBUL trägt dazu bei, diese Bande zu verstärken und wenn ja, wodurch?
Dadurch, dass wir uns im Theater begegnen, dass wir mit Menschen im Theater sitzen, mit denen wir sonst womöglich nicht im Theater sitzen würden und eine Lebensgeschichte miterleben, die einem gar nicht so klar war. Dass man zum Beispiel erfährt, dass türkische Gastarbeiter in Züge mit harten Holzbänken eingepfercht wurden – in den 60er Jahren, ohne Pinkelpause über Stunden, teilweise nur in ihrer Sommerkleidung bei Minustemperaturen. Wie sie dann in Deutschland als Nummer an irgendeinen Ort zum Arbeiten verfrachtet wurden und es nicht klar war, ob sie über die zwei Jahre Rotationsprinzip hinaus bleiben dürfen. Und wenn, ob die Familie zuziehen darf. Das sind alles Faktoren, über die ich nie nachgedacht habe, die mir auch nie in der Schule erklärt wurden, und ich hab mich da auch selber gar nicht drum gekümmert. Plötzlich erfahre ich das aber an diesem Abend, und das in einer Leichtigkeit mit Hilfe dieses Perspektivwechsels. Das verbindet hoffentlich dann sehr. Unsere Erfahrung damals in Bochum war, dass das für Viele, vor allem ältere Türkinnen und Türken, die im Publikum saßen, so schön war und so befreiend. Viele kamen später zu uns und sagten: Hier wurde gerade meine Lebensgeschichte erzählt oder die Lebensgeschichte meiner Eltern. Und wiederum sitzen meine Eltern daneben und bekommen das mit. Da entsteht plötzlich ein ganz anderer Raum der Begegnung und des Zusammenkommens. Man versteht sich einfach besser, denke ich.
Wenn man an die Türkei denkt, kommen einem direkt auch politische Zusammenhänge in den Kopf. Das Stück ist aber bewusst nicht politisch – warum?
Es ist einfach nicht das richtige Genre dafür. Natürlich sind wir trotzdem ein politischer Abend, allerdings nicht dahingehend, dass wir fragen, wie heute die Zustände in Istanbul sind oder wir das Thema Erdogan aufrollen, sondern weil wir danach schauen, wie wir heute zusammenleben und wie wir mit einer Liebe und Achtung und einem großen Verständnis füreinander zusammenkommen können. Insofern ist der Abend doch politisch, ohne dass er überhaupt in irgendeiner Form Politik formulieren muss. Ich erlebe einfach plötzlich – wie es im Stück heißt – eine Art von Völkerfreundschaft, einen Brückenschlag. Und sei es nur, dass man sich bei irgendeinem Sezen Aksu Song plötzlich in den Armen liegt. Es gibt für mich allerdings eine kleine Setzung, und das ist das Schlusslied und dessen Inhalt. Da heißt es: „Seitdem Istanbul Istanbul ist, hat es nicht mehr solchen Schmerz erlebt.“ Das aber nur als kleiner Schwenker, in erster Linie ist ISTANBUL ein Unterhaltungsabend.
ISTANBUL ist Deine zweite Produktion in Bonn nach SHAKESPEARES SÄMTLICHE WERKE (LEICHT GEKÜRZT). Wird dieser Abend vom Stil her ähnlich? Worauf kann sich das Publikum freuen?
Wahrscheinlich gibt es schon eine gewisse Handschrift. Den Reiz von SHAKESPEARES SÄMTLICHE WERKE hat das sehr charmant Rüde, teilweise Improvisierte ausgemacht. ISTANBUL ist mehr aus einem Guss, weil das Stück es gemeinsam mit der Musik so verlangt.
Aber ich schaue natürlich in erster Linie darauf, dass ich den Menschen, die ins Theater kommen, einen schönen Abend gestalte. Das wird auf jeden Fall das Verbindende dieser beiden Stücke sein – Humor, Spaß, Melancholie und eine große Liebe für das, was wir da auf der Bühne machen. Das ist mir wichtig.
Das Interview führte Nadja Groß.