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Fremd, aber nicht fern

Der Dramatiker Björn SC Deigner über sein Stück IN STANNIOLPAPIER, das am 13. September in der Werkstatt uraufgeführt wird.

„Viele geben’s nie preis. Aber nicht ich. Ich nicht.“ Sagt Maria. Sie spricht. Von einer einsamen Kindheit, dem unsichtbaren Mädchen, das sie während der Schulzeit ist und dem Rotlichtmilieu, das sie als Jugendliche schon in Romanen fasziniert und in dem sie bald darauf zu Hause ist: Maria wird Prostituierte.

Ausgehend von biografischem Gesprächsmaterial hat Autor Björn SC Deigner ein Stück geschrieben, das die individuelle Geschichte einer einzelnen Frau beschreibt und gleichzeitig einen Ort in den Blick nimmt, der den Ruf des Verruchten und Abseitigen besitzt, an dem sich aber alle Gesellschaftsschichten begegnen. Es wird angenommen, dass in Deutschland zwischen 200.000 und 400.000 Prostituierte arbeiten und pro Tag bis zu eine Million Kunden von ihnen sexuell bedient werden. Etwa die Hälfte der Dienste werden in Bordellen angeboten, etwa 20 Prozent auf der Straße, ein weiterer Teil in Privatwohnungen. Die Zahlenangaben über Prostitution beruhen auf Hochrechnungen und Schätzungen. Deigner: „Für mich war Reiz und Herausforderung mit einer Biografie umzugehen, die dem Theater und seinem Publikum erst einmal fremd ist, aber eigentlich nicht fern. Prostitution als ‚ältestes Gewerbe der Welt‘ taucht immer wieder auch in klassischen Theaterstoffen auf, und zugleich wird vor allem über die Betroffenen gesprochen und nicht durch sie.“ Für die Figur der Maria gilt das nicht. Sie schweigt nicht und verschweigt nichts, kennt keine Scheu vor Tabuthemen. Der alkoholabhängige Vater, Missbrauch durch einen Freund der Familie, Gewalt – all dies beschreibt Maria ebenso offen wie distanziert. Der Text wechselt zwischen Ich-Perspektive und einer Draufsicht auf die Figur. Deigner: „Ich kann als männlicher Autor nicht behaupten, zu wissen, was in einer Prostituierten vorgeht. Aber ich kann mich einem solchen Lebenslauf als Phänomen nähern. Deshalb war mir ein immer wieder beschreibender Gestus des Textes wichtig.“ Diesen Gedanken greift auch Regisseur Matthias Köhler auf, der mit Birte Schrein, Sandrine Zenner und Manuel Zschunke zwei Schauspielerinnen und einen Schauspieler als Maria auf die Bühne stellt, um nicht nur ein individuelles Schicksal, sondern Sexarbeit, die Männer als Dienstleister keineswegs ausschließt, als gesellschaftliches Phänomen zu betrachten. Unterstützt wird diese geweitete Perspektive noch durch einen Männer-Chor, der mit Liedern aus verschiedensten Genres mal an die Romantisierung des Gewerbes erinnert und Träumen und Sehnsüchten Ausdruck verleiht, mal eine Atmosphäre von Unterdrückung und Gewalt entstehen lässt. Denn auch wenn Maria sich selbst nie als Opfer beschreibt und im Rückblick sagt, die Zeit auf der Straße sei die schönste ihres Lebens gewesen, bleibt die Freiwilligkeit ihres Tuns Auslegungssache. Durch die Schilderung ihrer Erlebnisse und Erfahrungen zeichnet Maria ein Selbstbild, das vor allem von Stärke und Unabhängigkeit geprägt ist. Deigner: „Für mich ist dieses Sprechen über sich selbst, was ja auch immer Konstruktion der eigenen Biografie bedeutet, eine zentrale Frage. Ist das ein Schutzmechanismus, um mit dem eigenen Leben umzugehen, oder eine souveräne Position, von der aus man auf seine Biografie schaut? Diese Frage stellt sich für ein Leben, das Maria gelebt hat, brennender – gilt aber letztlich für uns alle.“

von Male Günther