Identität und Illusion

Regisseurin Hanna Müller liest Thomas Mann schon ihr ganzes Erwachsenenleben lang. Er sei immer wieder aktuell – auch im Jahr seines 150. Geburtstages. DER ZAUBERBERG mit seiner Beschreibung einer lächerlich dekadenten, sich überwerfenden und politisch spaltenden Gesellschaft vor der drohenden Dämmerung des Weltkrieges sei beängstigend aktuell, sagt sie während der Vorbereitung auf ihre eigene Inszenierung eines seiner Werke. Die Selbstdefinition über den Blick der anderen mache Felix Krull vielleicht zu Thomas Manns zeitgemäßester Figur, findet sie.
Bei Felix Krull haben wir es mit einem Protagonisten zu tun, der schon früh begriff, dass »der Mensch sich nicht satt hören kann an der Versicherung, dass er gefallen, dass er wahrhaftig über die Maßen gefallen hat!« Er liebt die Anerkennung – ein Gefühl, das er immer wieder und wieder anstrebt.

So sei der Tag, an dem er vor Publikum als angebliches Wunderkind mit Geige auftritt und er im Anschluss mit »Lobsprüchen, mit Schmeichelnamen, mit Liebkosungen« belohnt wird, einer der schönsten Tage seines Lebens. Besser wird es noch, als sein Talent, andere zu täuschen, dazu führt, dass er greifbare Vorteile daraus zieht.
So ist er schließlich sogar im Stande, seinen gesundheitlichen Zustand in solcher Perfektion zu beeinflussen, »dass der Sanitätsrat [ihn] tatsächlich von seinem Fieberthermometer ablesen konnte.«.
Diese Gabe befreit ihn zunächst von der Schule und später vom Militärdienst. Felix Krull treibt das Spiel des Scheins und der Illusion immer weiter und macht am Ende allen etwas vor – durchaus charmant, ausgeklügelt und mit scheinbarer Leichtigkeit. Alles gipfelt in einem Doppelleben, in dem die »Anmutigkeit darin bestand, dass es ungewiss blieb, in welcher Gestalt [er] eigentlich [er] selbst und in welcher [er] nur verkleidet war«.
Bis zu einem gewissen Maße ist es ein Phänomen, das wir alle kennen. Wer genau bin ich eigentlich? Oder wer wäre ich manchmal gerne? Wann bin ich wer? Welche Rolle spiele ich wo und für wen? Wir Menschen finden uns zumeist in einem vielfältigen Konstrukt von Aufgaben und Beziehungen wieder. Beruflich agieren wir anders als privat. Ob unter Freunden, unter Kollegen oder innerhalb der Familie – nie ist unser Verhalten gleich. Anerkennung und Erwartungshaltungen schwingen bei der Suche nach dem eigenen Ich immer mit. Welches unserer vielen Gesichter ist unser wahres? Gibt es das einzig wahre überhaupt? Ist es nicht die Summe aller, die uns ausmacht? Und als ob das nicht schon genug wäre: In Zeiten von Social Media erschaffen sich viele von uns zudem sogar noch ein digitales Ich, das neben dem analogen existiert – meistens in perfektionierter Form.


In einem solchen Karussell von unterschiedlichen Gedanken, Rollen und der Suche nach der eigenen Identität lebt Felix Krull ein Leben, das – nicht zuletzt wegen einer beachtlichen Anzahl von Liebschaften, Betrügereien und Diebstählen – auf der Erfolgswelle schwimmt. Und dennoch ist der Protagonist von Beginn an einsam. Einsam, obwohl es die Gesellschaft ist, die er braucht. Hanna Müller beschreibt, dass Felix Krull nur über den objektivierenden Blick der anderen eine Selbstvergewisserung erfahre, die ihn vor der quälenden Angst schütze, hinter der eigenen Fassade vielleicht nur Leere vorzufinden.
Text von Susanne Röskens
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