Räuber und Gangster, Gauner und Verbrecher

Simon Solberg inszeniert DIE DREIGROSCHENOPER im Opernhaus in der musikalischen Leitung von Daniel Johannes Mayr
Der Londoner Stadtteil Soho ist auf der Bonner Opernbühne ein unwirtlicher Ort. Nur das künstliche Licht von flackernden Neon-Leuchten bricht die dunkle, verregnete Atmosphäre. Nicht einmal der viel besungene Mond über Soho vermag es, das Viertel in ein wärmeres Licht zu tauchen. Es ist dystopisch. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Viertels haben sich mit ihrer Umgebung arrangiert, sie gehen zur Arbeit, mühen sich ihre Karriereleitern hinauf und machen sich mitunter die Taschen voll. Dass ihre Geschäfte nicht selten am Rande der Legalität oder darüber hinaus stattfinden, ist ein Umstand, der in Soho nicht zu ändern ist. Und wenn alle so leben, dann kann es ja nicht verwerflich sein – oder?

Jonathan Jeremiah Peachum nutzt mit seiner Firma Bettlers Freund das Mitleid seiner Mitmenschen aus und lässt Bedürftige in ausgefuchsten Bettler-Kostümen für sich Almosen sammeln – natürlich nicht, ohne einen beträchtlichen Anteil selbst einzubehalten.
Der Gangster Macheath instruiert die Angestellten seiner Gangsterplatte in ganz London zu Raubzügen und verrät sie im erstbesten Augenblick an seinen alten Freund aus Armeezeiten, den korrupten Polizeichef Tiger-Brown. Die Prostituierte Jenny verrät kaltblütig alles und jeden an den Höchstbietenden und Tiger-Browns Tochter Lucy beansprucht Macheath als ihr – nicht nur sprichwörtliches – Eigentum, nachdem sie eine Affäre hatten.
Einzig die Tochter von Peachum und seiner Frau Celia, Polly Peachum, scheint ihre Sehnsucht nach Liebe und Verbindlichkeit mit der Hochzeit zu Macheath erfüllen zu können, obwohl ihre Eltern aus Angst um ihr Geschäft alles tun, um die Ehe zu verhindern. Doch auch Polly gerät in die Mühlen einer ökonomischen Logik und kann ihre moralische Integrität nicht aufrechterhalten, als sie wegen Macheaths Flucht seine Geschäfte übernimmt. Den Bewohnerinnen und Bewohnern von Soho ist ein entscheidender Sinn für das Zusammenleben abhandengekommen: ihr Gemeinsinn. Ihre Welt ist bestimmt von materiellen Zwängen und ihr Ideal scheint das des bürgerlichen Geschäftsmanns zu sein. Denn wenn hauptsächlich materieller Erfolg als Erfolg gilt, der ein angenehmes Leben bereitet, setzt das diejenigen, die kaum Chancen haben, ihn mit legalen Mitteln zu erreichen, unter enormen Druck. Und »wer keine Möglichkeit hat, eine respektable Identität für sich aufzubauen und sich von der respektablen Gesellschaft verstoßen sieht, ist offen für eine Lösung dieses Problems«, schreibt der Kriminologe John Braithwaite.


Letztendlich wollen sich Elisabeth Hauptmanns und Bertolt Brechts Figuren über ihr illegal verdientes Geld einen neuen, höheren Status erkaufen. So laufen die Gauner einem bürgerlichen Ideal hinterher, während der bürgerliche Geschäftsmann sein Geld mit den Methoden eines prototypischen Mafia-Gangsters macht. Verbrecher bleiben sie dennoch alle. Das Viertel Soho aus der DREIGROSCHENOPER scheint wie eine Allegorie auf die Auswüchse des Kapitalismus in unserer heutigen Welt. Die viel zitierten Verhältnisse, die gesellschaftlichen Missstände eines ausufernden kapitalistischen Systems, lassen die Menschen verrohen und sich voneinander entfremden bzw. nur noch in einer Warenlogik miteinander in Beziehung treten: Was kannst du mir bieten, wenn ich dir helfe? Welchen Preis muss ich zahlen, um von dir zu profitieren?

Seitdem Hauptmann und Brecht die DREIGROSCHENOPER 1929 schrieben und Kurt Weill die Musik komponierte, hat sich die Schraube des Kapitalismus in rasantestem Tempo weitergedreht. Mit dem Neoliberalismus hat eine Denkschule Einzug erhalten, in der der Gemeinsinn bewusst unterdrückt wurde, um das Profitdenken im Kern der Gesellschaft zu etablieren.
Beispielhaft hierfür ist das Zitat der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher: »So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt individuelle Männer und Frauen und es gibt Familien. Und eine Regierung kann nichts tun, außer durch die Menschen und die Menschen müssen zuerst nach sich selbst schauen. Es ist ihre Pflicht nach sich selbst zu schauen und erst dann nach ihren Nachbarn.«
Heute im Jahr 2025 legt der amerikanische Vizepräsident JD Vance als vermeintlicher Christ das Prinzip der Nächstenliebe auf krudeste Art und Weise aus, indem er Menschen hierarchisiert von Familie über Landsleute bis zum Rest der Welt. Und zusammen mit seinem Präsidenten Donald Trump ist er davon überzeugt, dass Hilfe für ein Land wie die Ukraine, das von einem autoritären Kriegstreiber angegriffen wird, nur dann ein guter »Deal« ist, wenn für die USA dabei ein lukrativer Profit herausspringt. Die Verbrecher Sohos haben es bis in Weiße Haus geschafft, sie geben sich dort einen bürgerlichen Anstrich und der Gemeinsinn versagt auf einer Weltbühne. Zuerst wird der Hamburger gefressen und dann die Moral mit Füßen getreten, denn die Gewinner können mit ihr nichts anfangen – weniger wegen der Brecht‘schen Verhältnisse, sondern aus menschenverachtender Ideologie.

Wie ist der Teufelskreis eines kapitalistischen Systems und seiner Entfremdung also zu durchbrechen, wenn es »einfacher ist«, wie der Kulturwissenschaftler Frederic Jameson schreibt, »sich das Ende der Welt, als das Ende des Kapitalismus vorzustellen«? In seiner Inszenierung der DREIGROSCHENOPER sucht der Hausregisseur des Schauspiels, Simon Solberg, da, wo keiner sucht, nach einem Quäntchen Empathie im bedrückenden Soho, nach der Empathie, die den Figuren von Elisabeth Hauptmann und Bertolt Brecht innewohnen könnte. Die Verhältnisse, sie sind so, doch vielleicht können die Ganoven des Kapitalismus noch von einem klassischen Opern-Motiv wie dem reitenden Boten in die Flucht geschlagen werden?
Text von Jan Pfannenstiel