Magazin

Das unerbittliche Schicksal

In der Regie von Martin Nimz ist das Stück ab 14. Januar im Schauspielhaus zu sehen

Unter der Brooklyn Bridge liegt das Hafenviertel Red Hook. Hier wohnt Eddie mit
seiner Frau Beatrice. Harte Arbeit bestimmt sein Leben. Nach dem Tod seiner Schwester hat er die Verantwortung für Nichte Katie übernommen, die beiihnen aufwächst. Die Ankunft von zwei Verwandten, die als illegale Einwanderer in Eddies Wohnung Unterschlupf finden, gibt seinem eigenen Leben eine tragische Wendung. Von außen betrachtet vollzieht sich ab hier Schritt für Schritt etwas, das man Schicksal nennen könnte. Eddie selbst ist blind für Zusammenhänge, er ist viel zu beschäftigt mit seiner Leidenschaft und Eifersucht und dem Kampf um seine Ehre und seine Familie. Dass all sein Handeln schließlich zu Selbstzerstörung und in eine Tragödie führen wird, weiß von Beginn an der Chor.
Er hat sich auf den Treppen versammelt, die das Halboval auf der Bühne umgeben, das an ein antikes Amphitheater erinnert. Den Bezug zur Antike hat Autor Arthur
Miller selbst vorgegeben: EIN BLICK VON DER BRÜCKE entstand 1955 zunächst als Versdrama mit einem Chor, mit dem Miller die griechische Tragödientradition aufgriff. Jedoch bereits für die Inszenierung von Peter Brook am Broadway im folgenden Jahr hatte Miller seinen Text in eine Prosafassung umgeschrieben und den Chor in eine einzige Figur gebracht, in die eines mit der Familie befreundeten Anwalts, der gleichzeitig auch als Erzähler von Eddies Geschichte auftritt.
Regisseur Martin Nimz nimmt in seiner Inszenierung am Theater Bonn die antiken Anklänge wieder auf und verwandelt den Anwalt zurück in einen Chor. Von den die Arena umgebenden Stufen aus schaut eine Gruppe von Menschen dem Geschehen zu und erhebt im Lauf des Abends immer wieder ihre Stimme. Mal mit Weitblick, mal mit Ironie kommentieren sie die Ereignisse und insbesondere Eddies Handeln und Gedanken. Sie durchschauen die Verhältnisse und ahnen die Konsequenzen jeder einzelnen Tat und jedes Worts voraus. Sie sehen gewissermaßen in die Seele der Menschen, die sich vor ihren Augen in der Arena immer stärker von ihren jeweils eigenen Motivationen und Zielen leiten lassen und sich dadurch immer weiter voneinander entfernen. Alle wollen im Kern etwas Gutes, doch schließlich bleibt jeder mit seiner Einsamkeit allein.
Für Arthur Miller erwuchs hieraus, aus der Vereinzelung des Menschen, die Trauer des Lebens. In seiner Autobiografie beschreibt er die für ihn wichtigste Bedeutung des Stücks: Es ging ihm darum, die Entwicklung eines Geschehens freizulegen, die Unerbittlichkeit einer Ordnung im Leben sichtbar zu machen. In der Inszenierung von Martin Nimz wird diese Aufgabe vom Chor mitübernommen. Er besitzt die Draufsicht, sein Blick ähnelt dem des Publikums im Theatersaal. Auf diese Weise kann er die einzelnen Figuren der Schicksalsgemeinschaft in einen allgemeinmenschlichen Zusammenhang einordnen und sich mit einem leichten Achselzucken in der Stimme dazu äußern. Denn es ist nichts weiter – aber auch nicht weniger – als das Schicksal des Menschen an sich, das sich hier vollzieht. In seinen Emotionen, Wünschen und Bedürfnissen ist dieser vor dem Scheitern niemals sicher, so sehr er sich auch bemüht, ein guter Mensch zu sein. Das macht ihn im Wesen verletzbar, und auch Eddies Geschichte verfolgt man aus dem Zuschauerraum mit Sympathie für seine innere Zerrissenheit. Einer gewissen Melancholie bei seinem Anblick kann sich daher wohl auch der Chor nicht erwehren.


Male Günther