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„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich...“

Lew Tolstoi und sein Jahrhundertroman Anna Karenina

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Mit diesen Worten eröffnet Lew Tolstoi seinen Jahrhundertroman Anna Karenina. Der russische Literaturwissenschaftler Viktor Schklowski schrieb über diesen Autor, „der sich seiner Epoche entgegen stellte, aber sich nicht von ihr abwandte“, dass er genau deshalb selbst zum „Denkmal dieser Epoche wurde, ihr Gewissen und Spiegel zugleich“. Denn in seinen Werken beschrieb Tolstoi die Laster und Verwerfungen seiner Zeit als seine eigenen, die er verteufelte. Der Adelsspross aus einer russischen Grafen-Dynastie führte selbst lange Zeit ein Luxusleben auf Kosten anderer: exzessive Jagd, Fleisch- und Kunstgenuss, ausschweifende Sexualität – was immer Tolstoi in seinen Werken anprangerte, er lebte es selbst. Die Literatur wurde später der Ort, an dem Tolstoi seine Dämonen zuließ, um sie dann mit Furor auszutreiben. Schon früh aber zeigte sich in seinen Werkenein moralischer Rigorismus, der in seinem Spätwerk in manchmal schwer erträglichen Fundamentalismus umschlug. Der späte Tolstoi verfasste fast ausschließlich sozialethische und politische Schriften, betrachtete seine früheren großen Romane, die ihn berühmt gemacht hatten, als eitel und nichtig und ließ nur Märchen, Legenden und die Gleichnisse der Bibel gelten: literarische Gattungen, die auch dem einfachen Volk verständlich sein sollten. Diesen Ansatz hat Tolstoi in seiner theoretischen Schrift Was ist Kunst? ausführlich dargelegt. Auf seinem Landgut „Jasnaja Poljana“ versuchte er zugleich, diese Prinzipien in gelebtes Leben zu übersetzen. Tolstoi starb auf einer Pilgerreise, als der Sinnsucher, als der er auch gelebt hatte, auf einem Bahnhof in der russischen Provinz. Wie wird man dem Phänomen Lew Tolstoi gerecht? Wie bringt man sie unter einen Hut – die „Einseitigkeit seiner Lehre“ und die „Vielseitigkeit dieses märchenhaften Menschen“ (Maxim Gorki) und Künstlers? Tolstois Roman ANNA KARENINA entstand in den Jahren 1873 bis 1878 und wurde erstmals 1877/78 veröffentlicht. Er erzählt von Ehe und Moral in der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, indem er die Geschichten dreier adliger Familien miteinander verwebt: der des Fürsten Stepan Oblonski und seiner Frau Dolly, der Beziehung ihrer jüngeren Schwester Kitty zu dem Gutsbesitzer Lewin, sowie vor allem Anna Kareninas, der Schwester des Fürsten, die mit dem Staatsbeamten Alexej Karenin verheiratet ist. Annas Liebesaffäre mit dem Grafen Alexej Wronski führt schließlich zum Bruch der Ehe, der Scheidung und endet unglücklich mit ihrem Selbstmord. Die scheiternde Beziehung der Karenins auf der einen und die Entwicklung der Ehe Kittys mit Lewin auf der anderen Seite, bilden die Handlungsschwerpunkte des Romans. Die Geschichte des Fürstenpaares Oblonski ergänzt und kontrastiert diese beiden Haupthandlungen. Der Konflikt des Romans entfaltet sich weniger im Privatleben der Figuren als vielmehr unter dem immensen Druck der Gesellschaft. Hier zeigt sich Tolstoi als feiner Beobachter der St. Petersburger Society, der er in seinem Roman das einfache Landleben entgegenstellt. Das Spiel der Intrigen, das starre Festhalten der Konventionen und die künstlich hochgehaltene Entrüstung über Annas „Fall“ wirken wie ein Gift, das eine gütliche Einigung in der Ehebruchsaffäre unmöglich macht. Warum erscheint uns heute, wo es beinahe das komplette Korsett dieser gesellschaftlichen Regeln nicht mehr gibt, an deren Enge und Gnadenlosigkeit eine Frau wie Anna zerbrochen ist und Ehescheidungen alltäglich geworden sind, ausgerechnet diese unbedingt Liebende derart aktuell? Die Regisseurin Luise Voigt interessiert sich bei ihrer theatralischen Umsetzung weniger für den Ehebruch, als vielmehr für die weiteren Tiefendimensionen des Stoffes. Für sie sind die Hauptthemen des Werks die Fragen nach Schuld, Verurteilung, Indifferenz, Vergebung – und letztlich die Frage nach dem Sinn des Lebens: Tolstoi schlägt diesen Bogen, indem er den Roman mit einem fast biblischen Motto beginnen und mit Lewins Antwort auf die Sinnsuche enden lässt. Und dennoch, auch wenn sich die moralischen Koordinaten geändert haben: Die Misere einer Ehe und das dramatische Scheitern einer großen Liebe haben an Aktualität nichts eingebüßt.

Text: Carmen Wolfram