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Hinter der Fassade bürgerlichen Anstands

Am 8. November feiert Kleists DIE MARQUISE VON O. Premiere im Schauspielhaus.
Wir baten den Dichter und Dramatiker zu einem fiktiven Interview.

Die Marquise von O. ist schwa­nger, weiß nicht, von wem, und kann sich an nichts erinnern. Sie wird ausgegrenzt für ein Verbrechen, das an ihr begangen wurde. Motive der Verheimlichung, des Nicht-Aussprechens und Nicht-Nennen-Wollens durch­ziehen Kleists Novelle.

Lieber Herr von Kleist, was haben Sie sich dabei gedacht?

Kleist: Was meinen Sie?

Ihre Novelle DIE MARQUISE VON O.

Kleist: Ach, ein Skandalon, ich weiß. Als mein Text 1808 in der Literaturzeitschrift Phöbus erschien, errötete, fauchte und zürnte die Leserschaft. Man witterte Unsittlichkeit, eine schamlose Posse.

Merkwürdig ist die Geschichte schon: Da wird eine Frau bei der Eroberung ihrer Heimatstadt von mehreren Soldaten bedroht, ein Offizier rettet sie im letzten Moment, sie fällt in Ohnmacht. Als sie Wochen später feststellt, dass sie schwanger ist, unternimmt sie alles, um ihre Ehre zu retten, wird aber von ihrer eigenen Familie verstoßen.

Kleist: Dieser Moment macht sie ‚mit sich selbst bekannt‘. Sie hebt sich ‚wie an ihrer eigenen Hand‘ aus ihrem Schicksal heraus.

Ja, mit dem Verstoß aus der Familie wächst das Selbstbewusstsein der Marquise, sie emanzipiert sich. Schließlich setzt sie eine Anzeige in die Zeitung, um den Kindsvater und Vergewaltiger zu finden und kündigt sogar an, ihn zu heiraten, um die Fassade des Anstands wieder zu errichten. Ausgerechnet ihr vermeintlicher Retter, der Offizier, erweist sich als derjenige, der sie während ihrer Ohnmacht vergewaltigt hat. Und am Ende werden die beiden doch noch ein Paar.

Kleist: Ganz am Ende. Bis zur Auflösung folgt man der Marquise erst auf ihrem Weg zwischen dramatischen Ex­tremen.

Das stimmt. Zunächst erscheint der Offizier als rettender ‚Engel‘; nachdem er dann als Täter erkannt ist, als ‚Teufel‘. Und aus dieser Position erarbeitet er sich wieder den Status eines würdigen Ehemanns. Man muss sich schon fragen, was das für Werte sind, auf die sich die Gesellschaft da beruft. Insgesamt eine absurde und auch komische Geschichte.

Kleist: Die Doppelmoral der Gesellschaft ist komisch! Auch der Fachwelt damals ging es ja nur vordergründig um Wohlanständigkeit; der eigentliche Grund für die ablehnenden Reaktionen war Angst. Man hielt sich die Augen zu, um die Wahrheit nicht sehen zu müssen.

Welche Wahrheit war so beängstigend?

Kleist: Das optimistisch normierbare Menschenbild unseres aufgeklärten Zeitalters war am Ende. Man erkannte zwar das Zerbrechen der Normen und die Anstrengung, die erforderlich ist, um die Abgründigkeit zu überwinden und geordnete Verhältnisse wiederherzustellen, aber man wollte die Angst vor der Ungeheuerlichkeit und dem Absturz des Menschen nicht zugeben.

Ihre Novelle kreist also um die Frage: Was geschieht zwischen, mit und in den Menschen, wenn das Abgründige, das Elementare, das normalerweise von der „gesitteten Welt" verdeckt wird, zu wirken beginnt?

Kleist: Vielleicht. Die Welt ist eine gebrechliche Einrichtung. War sie zu meinen Zeiten schon. Wird sie immer sein. Ich gebe Ihnen ein Bild: Warum sinkt das gewölbte Tor, durch das man in die Stadt gelangt, nicht ein, da es doch keine Stütze hat?

Die Antwort ist: Es steht, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen. Und so verhält es sich auch mit unserem Dasein. Es ist nichts anderes als eine aufgehaltene Bewegung des Sturzes der im Sturz sich gegenseitig stützenden Stürzenden. Die Gebrechlichkeit und Brüchigkeit des Daseins. Die Widersprüchlichkeit als Grundzug des Lebens. Schön gesagt.

Kleist: Übrigens kann man aus diesem Gedanken auch einen unbeschreiblich erquickenden Trost ziehen, der nämlich mir immer zur Seite stand: Dass auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken lässt. Es gibt Hoffnung, dass moralische Ernsthaftigkeit und Anstrengung nicht unbedingt vergeblich sein müssen, wenn das Abgrundspiel der Welt sich wieder einmal neue Teilnehmer und Opfer gesucht hat.

Vielen Dank, das ist beruhigend. DIE MARQUISE VON O. hat heute Premiere im Bonner Schauspielhaus.

Kleist: Ah, dramatische Kunst! Wie wird das gemacht?

Der Regisseur Martin Nimz hat ein besonderes Konzept gewählt. Die Novelle wird von Annina Euling und Sören Wunderlich erzählt, um alle Farben und Facetten Ihrer dichten und widerspruchsreichen Sprache zur Geltung zu bringen. Parallel dazu werden mit fünf weiteren Schauspielerinnen und Schauspielern auf der Bühne Bilder entstehen, die die Handlung erzählen und Assoziations- und Interpretationsräume eröffnen, sodass jede Zuschauerin und jeder Zuschauer sich ein eigenes Bild von der Geschichte machen kann. Das Bühnenbild ist nach hinten durch eine blaue Wand begrenzt, die es ermöglicht, das Bühnengeschehen abzufilmen und digital vor andere Hintergründe zu versetzen. Diese neuen, zusammengesetzten Bilder werden für das Publikum auf Monitoren sichtbar sein und das Geschehen in neue räumliche und zeitliche Kontexte einbetten.

Kleist: Vor 200 Jahren hätte es das nicht gegeben. Aber heutzutage werde ich wohl fleißig in der Schule gelesen, wie ich hörte. Ich bin ein Klassiker!

von Male Günther