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"Des Mitleids Ruf, der Menschheit Stimme"

Am 1. Januar bringen Generalmusikdirektor Dirk Kaftan und Regisseur Volker Lösch Beethovens FIDELIO auf die Bühne.

Das Theater Bonn eröffnet das Beethoven-Jahr im Opernhaus mit einer aktuellen, politischen FIDELIO-Inszenierung unter der musikalischen Leitung von Dirk Kaftan; Regie führt Volker Lösch, der in Bonn mit WAFFENSCHWEINE, NATHAN DER WEISE, BONNOPOLY und HOUSE OF HORROR bereits Aufsehen erregt hat. Wir veröffentlichen Ausschnitte aus dem FIDELIO-Konzeptionsgespräch von Volker Lösch.

„Die Welt ist zum Verändern da, nicht zum Aushalten“, finde ich – und das findet auch Beethoven. Denn, so schreibt der Musikwissenschaftler Dietmar Holland: „Beethoven war ein musikalischer Moralist. Der erste wirklich politische Komponist der Musikgeschichte. Der ‚neue Weg‘, den er programmatisch bestritt, war der Versuch, die überlieferte Musiksprache einer grundlegenden Revision zu unterziehen, um sie durchlässig machen zu können für politisch-moralische Botschaften, von denen man früher sich nicht hätte träumen lassen. Beethovens einzige Oper FIDELIO ist dafür das eindringlichste Beispiel.“ Deshalb inszenieren wir ganz im Sinne Beethovens zu seinem 250. Geburtstag einen FIDELIO, der durch seine großartige Musik und seine brisante Handlung aktuell und politisch ist. In FIDELIO macht Beethoven ein musikalisch-politisches Experiment. Seine Ausgangsfrage lautet: Was muss man tun, um das schier Unmögliche zu erreichen?

Leonore, die sich als Mann verkleidet und Fidelio nennt, befreit ihren Geliebten Florestan aus dem Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses und löst damit in einem Unrechtsstaat einen Umsturz aus. Beethovens Antwort lautet: Man muss sein Leben riskieren – und bereit sein, eine ungeheure Zerreißprobe auszuhalten – sich selbst aufs Spiel zu setzen, ohne sich dabei zu verlieren. Diese Balancearbeit ist etwas Konkretes: persönliches und politisches Engagement unter Lebensgefahr. Der Glaube daran, dass das gut ausgeht, ist in jeder Szene Thema. Dabei ist Hoffnung das Hauptmotiv im FIDELIO. Die Oper ist ein Kraftwerk der Gefühle und der Utopie – denn alle Gefühle glauben an einen glücklichen Ausgang. Beethovens Musik ist eine inspirierende Energiequelle für gesellschaftliche Veränderung. Die Musik ist pur, unironisch und visionär; ihr ist die Kraft der Befreiung und Veränderung eingeschrieben. Beethovens Antrieb und Hoffnung kann man sich so vorstellen: Musik und Handlung der Oper strahlen auf die Wirklichkeit aus und verändern sie, indem sie die Zuschauerinnen und Zuschauer im Innersten berühren.

Beethoven setzt seine ganze Hoffnung auf einen nur mehr oder weniger vollständig verschütteten „guten Kern“ in jedem Menschen, der einen radikalen Lernprozess möglich macht: Der Beginn jedes politischen Engagements ist persönliche Betroffenheit und die individuelle Suche nach Glück im eigenen Leben. Wenn man die Augen vor der Not und dem Elend von anderen nicht verschließt, die Erfahrung von Gewalt und Unterdrückung ganz nah an sich herankommen lässt, wird ein unzerstörbarer Kern an Menschlichkeit im eigenen Innern freigelegt und berührt. Das ist mit des „Mitleids Ruf, der Menschheit Stimme“ gemeint. Man erfährt, dass Freiheit ein ureigenes Bedürfnis des Menschen ist, und wirkliche Befreiung nur als Befreiung aller gelingen kann. Diesen humanistischen Lernprozess macht Leonore in Sekundenschnelle beim Anblick des Gefangenen durch, von dem sie nicht weiß, ob es Florestan ist: „Wer du auch seist, ich will dich retten.“

Die modellhafte Welt von FIDELIO ist ein einziges, großes Gefängnis. In der Realität ist die Türkei das aktuelle, europäische Beispiel für einen autokratisch geführten Staat, in dem Regimegegner verhaftet werden und durch eine Willkürjustiz im Gefängnis verschwinden, weil sie – wie Florestan – die Wahrheit gesagt haben. Deniz Yücel schreibt über das türkische Justizsystem in seinem neuen Buch „Agentterrorist. Eine Geschichte über Freiheit und Freundschaft, Demokratie und Nichtsodemokratie“: „Die alte Justiz, auch die Militärjustiz ließ foltern, weil sie Geständnisse, also Beweise, wollte. Die Gülenisten-Justiz verzichtete auf Folter, weil sie Beweise manipulierte. Die heutige Justiz verzichtet ganz auf Beweise.“

Wir gehen mit Beethoven über Beethoven hinaus, indem wir mit seiner Befreiungsoper FIDELIO Öffentlichkeit für politische Gefangene in der Türkei herstellen. Die Bühne wird zum Forum für deren Angehörige, die über ihre Bemühungen um die Freilassung „ihres Gefangenen“ und über eigene Erfahrungen in türkischen Gefängnissen sprechen. Mit unserer FIDELIO-Inszenierung werden wir uns u. a. konkret für die Freilassung von Ahmet Altan, Hozan Canê, Gönül Örs, Soydan Akay und Selahattin Demirtaş einsetzen. Kurz gesagt: Wir vertrauen bei unserer Arbeit an FIDELIO ganz auf Beethoven und die lebensverändernde Macht der Musik – auf „des Mitleids Ruf, der Menschheit Stimme“.

von Volker Lösch

Sie möchten sich selber für die Freilassung politischer Gefangener in der Türkei engagieren? Was Sie tun können, finden Sie hier: theater-bonn.de/FreeThemAll