Wie Georg Büchner mit seinem Woyzeck den Blick des Publikums nach unten lenkt

Stummer Schrei nach Würde

© Sandra Then

WOYZECK ist zweifellos eines der bedeutendsten Werke der deutschen Dramatik. Das Stück wurde erstmals im 19. Jahrhundert veröffentlicht, doch seine Themen und Botschaft en bleiben bis heute relevant.

WOYZECK erzählt die Geschichte eines Menschen, der von der Gesellschaft und den Umständen seines Lebens zerrieben und aufgrund seiner prekären finanziellen Situation und sozialen Isolation in den Wahnsinn getrieben wird. Der Druck der Gesellschaft, seine Armut und seine eifersüchtige Obsession mit seiner Freundin Marie, führen zu einer tragischen Abwärtsspirale.

Das faszinierende an WOYZECK ist die Art und Weise, wie es die dunklen Aspekte der menschlichen Natur und der Gesellschaft aufdeckt. Es beleuchtet Themen wie soziale Ungerechtigkeit, den Verlust der eigenen Identität und die Zerstörung des Selbstwertgefühls. Die Figur des Woyzeck wird zu einem Symbol für die Verletzlichkeit des Einzelnen in einer unbarmherzigen Welt und steht doch exemplarisch für Tausende, die dieses Schicksal teilen.

© Sandra Then

Die Rezeption von WOYZECK hat im Laufe der Zeit verschiedene Interpretationen erfahren. In den 1960er Jahren wurde das Stück oft im Kontext der Arbeiterbewegung und als Kritik an der kapitalistischen Ausbeutung gesehen. In dieser Interpretation wurde Woyzeck zur Symbolfigur für die unterdrückte Arbeiterklasse, die von der herrschenden Elite ausgenutzt und schikaniert wird. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Interpretation erweitert. Es wird nun auch als Kritik an den gesellschaftlichen Strukturen und Normen betrachtet, die soziale Ungleichheit und Ausbeutung ermöglichen und den sozialen Zusammenhalt behindern. Das Stück zeigt, wie Menschen aufgrund ihrer sozialen Schicht in bestimmte Rollen gedrängt werden und wie diese Rollen ihr Leben und ihre Möglichkeiten beeinflussen. Büchner beschreibt, welchen Einfluss prekäre Arbeitsbedingungen auf die Gesundheit und Würde des Menschen haben. Heutzutage sehen wir eine ähnliche Dynamik in der Arbeitswelt wie schon zu Büchners Zeit. Immer mehr Menschen sind gezwungen, prekäre Arbeit anzunehmen, sei es in Form von befristeten Verträgen, Teilzeitarbeit oder unsicheren Arbeitsbedingungen. Diese Art von Arbeit führt oft zu Stress und finanzieller Instabilität. Menschen, die in prekären Arbeitsverhältnissen gefangen sind, haben oft wenig Kontrolle über ihre Arbeitszeiten, ihre Bezahlung und ihre Zukunftsaussichten. Sie sind gezwungen, sich den Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen, ohne die Möglichkeit, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu berücksichtigen. Diese Bedingungen haben Einfluss auf ihre psychische Gesundheit. Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen haben ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Burnout. Der ständige Druck, unsichere Arbeitsplätze zu behalten und den Erwartungen gerecht zu werden, führt zu einem erhöhten Stressniveau. Gefühle der Ohnmacht und Ausbeutung können zu einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit führen und zu einem Teufelskreis aus Unsicherheit und Krankheit.

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Im Fall von Woyzeck führen sie zum Mord an Marie. Dass sich der Wahn und die angestaute Wut auf die Gesellschaft am Ende bei der eigenen Frau entlädt, ist ein jahrhundertealtes Muster. Büchner stellt mit seinem Text auch die Frage nach der Verantwortlichkeit Woyzecks an seiner Tat, wobei die Frage der Täterschaft ganz klar mit ja beantwortet werden muss. Woyzeck, indem er seine Bewegung, die zum Mord führt, in Gang setzt und vollzieht, ist ein Täter. Das heißt: Er ist der Urheber seiner Tat. Die Frage ist: entsprach die Tat dem Wunsch seines Willens? War sein Handeln frei? Wie sehr beeinflussten ihn die von Büchner beschriebenen »Umstände, die außer uns liegen«?

Büchner war wohl in die wissenschaftliche Diskussion um Geisteskrankheiten und die Frage der Zurechnungsfähigkeit für Verbrechen von Jugend an eingeweiht, denn sein Vater, Ernst Karl Büchner, war nicht nur Arzt, sondern auch als medizinischer Gutachter für solche Fälle bei Gericht tätig. Was Büchner mit seinem Text hervorrufen wollte, ist Bewusstsein, Bewusstsein in einem emphatischen Sinn des Wortes. Das System der Entmenschung und die Folgen für die Opfer demonstriert er auch im WOYZECK zu dem Zweck, dagegen mobil zu machen. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Natürlich strebt er mit der Tragödie nicht dieselben Konsequenzen an wie mit dem HESSISCHEN LANDBOTEN, unmittelbar praktische und organisatorische. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sind nicht die Adressaten der Flugschrift. Die Parteinahme für die Opfer stellt Büchner sich überhaupt nicht als kurzschlüssige Identifikation mit Woyzeck und seinesgleichen vor – ein solches »Mitempfinden« würde sich bald, nachdem der Vorhang gefallen ist, verflüchtigen. Was er anstrebt, ist soziale Selbsterkenntnis: Durch den Blick in die Existenz des Paupers Woyzeck gewinnt das Publikum Einblick in ein System, das ihm irgendwie bekannt vorkommt. Dieser Fokus, der Blick nach unten, auf die »Geringsten«, ist der diametrale Gegensatz zur Identifikation mit »Helden«, dem Blick nach oben, der uns in Selbstvergessenheit einübt.

 

 

Text von Nadja Groß

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