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Die Stimme der Außenseiter

Der amerikanische Literaturnobelpreisträger John Steinbeck schrieb VON MÄUSEN UND MENSCHEN in den 1930er Jahren. Einer Zeit großen Umbruchs und noch gewaltigerer Krisen. Eine Zeit, die verunsichernd war, sprachlos machte und den Einzelnen mit einem Gefühl niederschlagender Macht- und Hilflosigkeit zurückließ. Der einfache Mensch hatte kaum eine Chance gegen das Bollwerk, das zuerst durch den Börsencrash in New York, die darauf folgende Große Depression und die sich global ausbreitende Weltwirtschaftskrise losgetreten wurde. Die Angst, die man nach Franklin D. Roosevelt selbst am meisten fürchten muss, schlug um sich und mündete 1933 in der größtmöglichen Katastrophe unserer Geschichte. Doch es sind nicht die großen realpolitischen Zusammenhänge, nicht die Makroebene, die Steinbeck in seinen Romanen beschrieb, sondern deren unmittelbare Auswirkungen auf die Einzelnen. Er schrieb in seinen sozialkritischen Texten über das Elend der armen Leute und deckte bestehende soziale Missstände auf. Außenseiter, Mittellose und Ausgegrenzte sind die Helden seiner Romane, die er stets einfühlsam und voller Sympathie aus ihrer eigenen Sichtweise heraus schilderte.

Steinbecks Zorn galt auch dem menschlichen Umgang mit der Natur. Schon früh erkannte er die Auswirkungen sukzessiven menschlichen Eingreifens in bestehende Ökosysteme. Eine der verheerendsten Folgen dieses Eingreifens, die bis dahin größte von Menschen gemachte Naturkatastrophe, erlebte seine Generation am eigenen Leib: die sogenannte Dust-Bowl im Mittleren Westen der USA. Aus der Prärie sollte Anfang des 20. Jahrhunderts die Kornkammer des Landes werden. Aber eine fatale Mischung aus Trockenheit, Erosion und ungeeigneten Anbaumethoden führte in den Folgejahren zu Ernteausfällen, Massenarbeitslosigkeit und Hungersnot. Tausende von Menschen verloren ihr zu Hause und versuchten, in fruchtbareren Gebieten Arbeit und ein Dach über dem Kopf zu finden. Eine Welle der Arbeitsmigration entstand, wie sie auch heute wieder ansteigt.

Über John Steinbeck

Steinbecks Art zu schreiben war eine journalistische, beobachtende, sehr genau wahrnehmende und – was am wichtigsten ist – nicht verurteilende. Das Personal seines Romans Die Straße der Ölsardinen etwa beschreibt Steinbeck so: »Huren, Hurensöhne, Kuppler, Stromer und Spieler, mit einem Wort: Menschen. Man könnte mit gleichem Recht auch sagen: Heilige, Engel, Gläubige, Märtyrer – es kommt nur auf den Standpunkt an.« Steinbeck verstand Literatur als menschliches Instrumentarium, das Schwächen und Stärken der Gesellschaft aufzeigen muss, dabei aber niemals den Glauben an das Gute im Menschen verlieren darf. Doch er war auch ein zorniger Schreiber. »Alle seine Arbeiten«, schrieb Professor James Gray, »dampfen von Empörung über Ungerechtigkeit, von Verachtung für falsche Frömmigkeit, Verachtung für die List und Selbstgerechtigkeit eines Wirtschaftssystems, das Ausbeutung, Gier und Brutalität fördert.«

Zu den Charakteren

Aus dieser Situation kommen auch die Freunde George und Lennie, die beiden Protagonisten aus VON MÄUSEN UND MENSCHEN. Sie gehen von Farm zu Farm, um für wenig Geld und unter schlechten Arbeitsbedingungen auf fremden Feldern zu arbeiten. Ihr Traum – und dieser Traum steht stellvertretend für den von Millionen von Menschen – ist ein eigener Platz zum Leben. Ein Platz ohne Ausbeutung und ohne Angst vor dem nächsten Tag. Ein Platz, an dem sich Menschen freundlich, zugewandt und respektvoll begegnen können. Ein bescheidener Traum, doch er scheitert in Steinbecks Erzählung oder Play-Novelette, wie man VON MÄUSEN UND MENSCHEN wegen seiner aktähnlichen Szenen und der Einheit von Zeit, Ort und Handlung auch genannt hat, an den Umständen. Wo Menschen keine Heimat haben, wo Zwietracht und Gier herrschen, wo unerfüllte Existenzen aufeinanderprallen fehlt das Fundament für eine harmonische, verantwortungsbewusste Gemeinschaft.

Unter diesen Bedingungen kann sich zwischenmenschliche Verantwortung nur tragisch entfalten. Doch selbst inmitten der größten Tragik, hält Steinbeck in VON MÄUSEN UND MENSCHEN an der Hoffnung fest, wenn er sagt: »Es scheint eine ungeklärte Tragödie zu sein, ist es aber nicht. Eine sorgfältige Lektüre wird zeigen, dass das Publikum entgegen seiner Hoffnungen zwar weiß, dass der Traum nicht wahr werden wird, George und Lennie jedoch während des Stücks davon überzeugt sind, dass er es doch tut. Und diese Überzeugung überträgt sich und wird zu einem gemeinsamen, emphatischen Hoffen, bevor der Traum durch das, was auch immer das moderne Wort für Schicksal ist, erstickt wird. Jeder auf der Welt hat einen Traum, von dem er weiß, dass er wohl schwerlich wahr werden kann, aber er verbringt sein Leben damit, darauf zu hoffen.

 

Das ist gleichzeitig die Traurigkeit, die Größe und der Triumph unserer Spezies. Der Glaube an Möglichkeiten, an Veränderung, daran, dass allen Prognosen zum Trotz ein Ruder noch herum gerissen werden kann. Diese Fähigkeit hat die Kraft, aus uns allen bessere Menschen zu machen. Und sei es auch nur für den Augenblick.«

Text von Nadja Groß