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Nur ein Kuss

Ein Gespräch mit Regisseur Ludger Engels über APEIRON.

Lieber Ludger, der Titel APEIRON greift einen Begriff aus der frühgriechischen Philosophie auf. Wörtlich bedeutet er „das Grenzenlose“, „das Unbestimmbare“, und benennt eine Art Urstoff, welcher ständig bewegt und durchgehend belebt wird. Aus diesem gehen die konkreten Erscheinungen hervor, und in denselben kehren sie wieder zurück. Apeiron ist also so etwas wie das Prinzip aller Dinge. Was beschreibt Apeiron für dich in Bezug auf das Stück?

Ludger Engels: Apeiron ist das große Ganze. Unabhängig von der jeweiligen Biografie, dem Status oder der Herkunft greifen immer ähnliche Mechanismen. Es gibt immer eine Sehnsucht danach, gesehen zu werden. Im Stück erleben wir das am Beispiel von drei extremen Endpunkten von Biografien, die diesem Wunsch nachgegangen sind. Eine der drei Figuren ist schon von Geburt an berühmt, ohne es sein zu wollen, weil sie einen bestimmten Namen trägt. Ihr Gesicht gewinnt in der Öffentlichkeit noch einmal an Bekanntheit, als ihr Fall publik wird bzw. sie selbst ihn publik macht. Die anderen beiden, die diese Berühmtheit gesucht haben und sie sich in verschiedener Weise aufgebaut haben, stürzen genau darüber: über den Drang, in der Öffentlichkeit ein bestimmtes Bild von sich zu verbreiten. Spannend finde ich aber vor allem, dass sich all das herunterbrechen lässt auf sehr einfache Bereiche wie Paarbeziehungen, Begegnungen im Beruf oder auf der Straße. Es scheint ein allgemeines Bedürfnis danach zu geben, auf sich selbst aufmerksam zu machen. Darin muss keine Hybris liegen, sondern nur das schlichte Bedürfnis, gespürt zu werden. Was passiert, wenn keiner mehr nach mir spürt, keiner mehr ein Gefühl für mich hat, für mich, wie ich wirklich bin? Das ist ein Thema, das uns alle betrifft.

Sicher auch im Hinblick auf die Ebene der Medien, die sich auch im Textbeginn findet, in einer Art Übertragung von Goethes Zauberlehrling ins Zeitalter der digitalen Medien. Wir sind von einer Bilderflut umgeben, von uns werden Bilder gemacht, wir machen Bilder von uns. 

LE: Ja, all das prägt uns. Es beginnt schon mit den Daten, die von uns gesammelt werden. Daher verbindet sich Apeiron für mich mit Dynamiken, die in Gesellschaften existieren, die man vielleicht gar nicht personifizieren, sondern eher als ein System beschreiben kann. Wir bewegen uns wie in einem Strom. Wir laufen mit, ordnen uns immer wieder ein. Dieser Strom ist für mich Apeiron, eine Art Zeitstrom, in dem jeder sich mit seinem Leben befindet. Das manifestiert sich heute vielleicht vor allem auf einer medialen Ebene. Diese Dynamik kann sich aber auch in einer Zweierbeziehung zeigen, die vielleicht gar nichts mit einer medialen Ebene zu tun hat.

In jeder der drei Biografien, die den Figuren des Stücks zuzuordnen sind, gibt es den Moment des Fallens. Worin liegt die Ursache dieses Fallens?

LE: Die Figuren fallen nicht über ihre Tat oder über ihr Schicksal. Bei der Unternehmerin beispielsweise, die einem Gigolo erliegt und von ihm erpresst wird, wird genau das medial ausgeschlachtet. In der Folge entsteht ein Bild von ihr, das mit ihrer Person vielleicht sehr wenig zu tun hat. Wie kann sich eine Persönlichkeit dagegen wehren? Und bei der Figur des Politikers betreibt ja eigentlich die Öffentlichkeit eine Aufklärung und vollzieht eine Verurteilung, die durch die Justiz noch gar nicht erfolgt ist. Der eigentliche Fall beginnt mit dem, was danach passiert, nämlich mit dem Umgang damit in der Öffentlichkeit.

Innerhalb einer Probenzeit entwickelt man ja ein Verhältnis zu den Figuren auf der Bühne. Wie würdest du deines zu den dreien beschreiben?

LE: Das lässt sich bei allen sehr gut auf einen Nenner bringen. Der Text nimmt immer wieder Bezug auf das Kind, das noch in jeder der Figuren steckt. Es ist vielleicht eine Naivität, die man als Außenstehender kaum nachvollziehen kann. Bei allen bricht eine Kindlichkeit durch, die ein gewisses Maß an Mitleid hervorruft. Ich habe Mitleid mit ihnen vor allem wegen ihrer Unfähigkeit, die Reaktionen der Öffentlichkeit auf ihren jeweiligen Fall zu begreifen. Sie haben eine Distanz zu sich selbst. Das macht mitleidig, im positiven Sinn, denn es kann jedem passieren, dass man die Distanz zu sich selbst verliert. Plötzlich gelingt die Draufsicht auf sich selbst nicht mehr, und dadurch gerät man in einen Strudel, in einen Sog des Nichtverstehenkönnens, und fühlt sich als Opfer.

Man könnte vielleicht sagen, der Text beschreibt nur einen einzigen Moment, in dem einem aber tausend Gedanken durch den Kopf schießen, die der Text in sehr ausführlicher Weise formuliert. Du beschreibst das oft als Kuss.

LE: Für mich ist dieses Stück wie irgendwo draußen sitzen. Ich sehe Menschen an mir vorbeigehen und sehe ihnen für einen Moment in die Augen, in denen vielleicht eine Traurigkeit liegt oder ein Suchen. So sind auch die Figuren im Stück. Die Frage, die mich bei allen interessiert, ist: Warum macht jemand so etwas?  Die Antwort liegt bei allen vielleicht in einem Defizit. Sie alle wünschen sich vielleicht letztendlich nur diesen Kuss, eine Berührung, dieses Gemeintsein ohne weitere Fragen wie: Bist du erfolgreich? Wer bist du? Für mich geht es hier um die Sehnsucht nach Zärtlichkeit oder überhaupt Körperlichkeit. Um den Wunsch, sich selbst zu spüren, als Mensch wahrgenommen zu werden, ohne seine gesamte Biografie, pur, als Person.

Du bist selbst auch Musiker, inszenierst auch im Musiktheater. Setzt du bei APEIRON auch eine eher musikalische Herangehens­weise ein?

LE: Ich würde eine Oper oder ein anderes Stück nicht anders probieren, denn ich glaube, jeder Text hat seine eigenen Notwendigkeiten und Bedingungen. Und dieser Text ist mit Sicherheit strukturell sehr komponiert. Er ist kein psychologisches Stück mit klaren Entwicklungen in den Charakteren oder in der Handlung. Es sind Momentaufnahmen. Anja Hilling hat ganz bewusst Textformen erfunden, die mit Rhythmen arbeiten, mit Textflächen, Wiederholungen, Variationen in Motiven und Dynamik. Das sind Grundparameter, die auch ein Komponist zur Verfügung hat. Das Stück hat eine sehr kompositorische Struktur, und die versuche ich zu greifen.

Die Fragen stellte Dramaturgin Male Günther.