Die Meistersinger von Nürnberg
von Richard Wagner
Regie: Aron Stiehl
»Wahn, Wahn, überall Wahn!«,
klagt der Schuster und Poet Hans Sachs, nachdem er beobachtet hat, wie aus heiterem Himmel in der Stadt Krawall ausbricht und die einst ruhige, homogene Gesellschaft plötzlich zu einer aggressiven Meute wird. Diese Szene, die »Prügelfuge« genannt wird, ist einer der musikalischen Höhepunkte von Wagners DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG. Von Witz und Klamauk bis hin zum tiefsten Ernst reicht der Spannungsbogen dieser Oper. Die Suche nach einer Zukunftsvision, die Stellung der Kunst in einer Gesellschaft, Fragen der Identität, der Integration der Neuerungen in das bestehende System und der Respekt vor der Tradition sind Themen dieses monumentalen Kunstwerks, das nicht nur politische Fragestellungen, sondern auch die Abgründe der menschlichen Seele in den Vordergrund rückt.
Historische Hintergründe
Nürnberg: Die Stadt, in der nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung von Luthers berühmten 95 Thesen die Reformationsideen schnell Fuß fassen konnten. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts entwickelte sich Nürnberg zu einem blühenden Zentrum von Handwerk, Handel und Humanismus. Im Gegensatz zu einigen anderen Städten im Heiligen Römischen Reich gab in der Regierung dieser Reichsstadt nicht der Adel, sondern vielmehr der Rat und die Zünfte den Ton an. Daher fand der Protestantismus, der Hierarchien abschaffte und einem Individuum mehr Autonomie einräumte, sofort Anklang bei den städtischen Bürgern – Handwerkern und Kaufleuten. Eine der berühmtesten Figuren jener Zeit – sowohl als leidenschaftlicher Anhänger der Reformation als auch als Denker, Handwerker und Meistersinger – war Hans Sachs (1494-1576). Richard Wagner machte ihn zum Protagonisten seiner Oper DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG und vertonte sogar darin ein Fragment dessen Reformationsgedichts Die wittenbergisch Nachtigall.
Die Meistersinger waren Mitglieder städtischer Handwerker- und Bürgerschaften, die sich der Pflege und Weiterentwicklung der Dichtkunst und des Gesangs verschrieben hatten. Sie trugen dazu bei, die literarische und musikalische Tradition ihrer Zeit zu bewahren und weiterzuentwickeln. Obwohl die Meistersinger oft als konservativ galten, da sie an traditionellen Formen und Regeln festhielten, war ihre Bewegung auch ein Ausdruck der kulturellen Eigenständigkeit des Bürgertums gegenüber dem Adel und der Kirche.
Handlung
Die Handlung der MEISTERSINGER spielt im Nürnberg des 16. Jahrhunderts und dreht sich um den jungen Ritter Walther von Stolzing, der sich in Eva Pogner, die Tochter eines angesehenen Bürgers, verliebt. Um Evas Hand zu gewinnen, muss Walther jedoch zunächst in die ehrwürdige Zunft der Meistersinger aufgenommen werden und einen Gesangswettbewerb gewinnen.
Hierbei trifft er auf den Schuster und Meistersinger Hans Sachs, der sich ungeachtet seiner eigenen Liebe zu Eva selbstlos entscheidet, den Liebenden zu ihrem Glück zu verhelfen. Sachs ist beeindruckt von Walthers ungestümem Wesen und dessen ehrlicher und origineller Art zu singen, die jedoch keinen ihm bekannten Regeln folgt. Neben Walther gibt es einen anderen Werber, den Merker Beckmesser, der sowohl für viele komische Momente in der Oper sorgt als auch als negatives Beispiel für geistlose, aber regelkonforme Kunst dient.
Entstehung & Rezeption
Mehr als 20 Jahre vergingen zwischen dem ersten Entwurf und der Uraufführung der MEISTERSINGER VON NÜRNBERG. Der erste Prosaentwurf des Librettos reicht bis ins Jahr 1845 zurück, die eigentliche Arbeit begann allerdings erst im Jahr 1861. Wagner komponierte die Musik von 1862 bis 1867, während er parallel an anderen Opern arbeitete. Die Uraufführung der MEISTERSINGER 1868 im Königlichen Hof- und Nationaltheater in München war ein großer Erfolg. Die Oper wurde bald als Ausdruck von Wagners Ideal einer deutschen Kunst und Kultur interpretiert, was natürlich in der späteren Rezeption in der NS-Zeit einen Anlass gab, das Stück politisch zu instrumentalisieren und als Ausdruck eines vermeintlich »echten« deutschen Geistes anzusehen.
Inszenierung
Der Schauplatz von Aron Stiehls Inszenierung ist ein evangelisches Gemeindehaus der 1950er Jahre. Hier findet das gesamte gesellschaftliche Leben statt, hier versammeln sich Bürgerinnen und Bürger, um gemeinsam an kulturellen Aktivitäten teilzunehmen. Langsam lernen sie, sich als demokratische Gesellschaft zu begreifen, beschäftigen sich aktiv mit dem Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum, verdrängen jedoch und schweigen ihre Vergangenheit tot. Die Analogie zwischen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die sich nach und nach ihrer Vergangenheit stellt und dadurch in kleinen Schritten der Demokratie annähert, und der Reformationszeit, die sich für die damalige Gesellschaft als identitätsstiftend erwies, rückt sowohl die Aufführungsgeschichte des Stücks kritisch ins Licht als auch erfasst die Botschaft der Oper als einen Aufruf zur Integration, Inklusion und Gleichberechtigung. Eine fortschrittliche Entwicklung wäre unmöglich ohne offenen kritischen Umgang mit dem Kanon und der Doktrin der Vergangenheit, aber auch nicht vollständig ohne Rücksicht auf zeiterprobte politische Institutionen.
Text von Polina Sandler.