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Wenn Götter die Erde verbrennen

Dramaturg Constantin Mende über LA CALISTO – eine schwarze Komödie in barocker Pracht.

Wie verbindet man packende Unterhaltung mit hintergründiger Gesellschaftskritik? Die Meister der frühen Opern des 17. Jahrhunderts in Venedig, Francesco Cavalli und Giovanni Faustini, wussten es. Im Gegensatz zu den Ursprüngen der Oper in Florenz und Mantua wurden die venezianischen Opern nicht von wohlhabenden Aristokraten zu Repräsentationszwecken finanziert: Mitte des 17. Jahrhunderts befand sich die noch junge Gattung, zunächst als dramma per musica – Musiktheater – bezeichnet, in einer ersten Blütezeit. Zahlreiche neue Opernhäuser wurden innerhalb kürzester Zeit gegründet und traten auf dem engen Raum der venezianischen Inseln in harte Konkurrenz zueinander. Das Publikum, gewohnt an den schon damals massenhaft Touristinnen und Touristen anziehenden Karneval, erwartete nicht weniger als ein Spektakel. In den Opernhäusern saßen auf engstem Raum – Pest- und Corona-nonkonform – hunderte Zuschauerinnen und Zuschauer aus allen Schichten. Die drammi per musica wie LA CALISTO mussten deshalb für jeden zugänglich sein. Sie boten einen vielschichtigen Text, der in den Nachwirkungen der Renaissance meist von den großen antiken Autoren inspiriert war, und verbanden diesen mit hochdifferenzierter Musik, die Claudio Monteverdi sicher am entscheidendsten prägte. Nicht mehr die kunstvoll abstrakte Komplexität der Polyphonie stand hier im Vordergrund, sondern der unmittelbare Gefühlsausdruck, der mit musikalisch völlig neuen Mitteln gestaltet wurde. In den venezianischen drammi permusica wurden nun immer mehr Arien und Tänze integriert. Das Ergebnis waren Gesamtkunstwerke, die Musik, Tanz, Schauspiel, Tragik und Komik vereinten, stets ausgestattet mit der modernsten Bühnentechnik und prächtigen Kostümen.
Davon ist die Bühne, die fettFilm für LA CALISTO geschaffen hat, nicht weit entfernt. Durch Videoprojektionen lässt sie sich in kürzester Zeit in das verwüstete und verbrannte Arkadien verwandeln, den Berg Lykaion und das Empyreum. An diesen Schauplätzen entwickelt sich eine bitterböse Komödie. Jupiter steigt mit Merkur herab auf die versengte und verdorrte Erde, die von Phaethon bei dem Versuch, den Sonnenwagen selbst zu lenken, verwüstet wurde. Von dem Plan sich mit – für einen Gott – billigen Tricks selbst als Retter in der Not zu inszenieren, wird Jupiter schnell durch die Nymphe Calisto abgelenkt, die sich jedoch nicht ohne Weiteres verführen lassen will. Er ist empört und versucht es mit List: In der Gestalt der Diana ist er erfolgreich. Die echte Diana entdeckt die Vergewaltigung und verstößt ihre Gefährtin als unrein. Zudem rächt sich nun auch Jupiters Ehefrau Juno – nein, nicht an ihrem Gatten, sondern an Calisto, die sie, wie schon Diana, in reinstem victim  blaming für die Vergewaltigung beschuldigt. Diana selbst ist jedoch nicht so keusch wie ihr Ruf. Auch sie hat eine  Leiche im Keller bzw. einen Geliebten in der Höhle versteckt: Endymion. Regisseur Jens Kerbel sieht in dem Stück eine schwarze Komödie. Eine Übertragung in die heutige Zeit fällt nicht schwer, da die Themen, die LA CALISTO behandelt, ausnahmslos zeitlos und hochaktuell sind. Dabei legt er den Fokus auf das Schauspielerisch-Komödiantische, das jedoch immer wider durch die tragischen Schicksalsschläge, die Calisto erfährt, gebrochen wird. Das Ende ist ein gutes – oder ist es doch eine Katastrophe? Der Sieger ist bekanntlich immer der, der die Geschichte erzählt.

von Constantin Mende