Über die Widerstandskraft des Erinnerns
Schauspieldirektor Jens Groß inszeniert Heinrich Bölls »Frauen vor Flusslandschaft«
Ein Text wie ein gut konzipierter Krimi:
Ein Luxussanatorium, in dem die Erinnerungen korrigiert werden und in dem die Frauen hochrangiger Politiker verschwinden, wenn sie zu viel wissen und zu viel plaudern. Der Selbstmord einer älteren Frau – Opfer der verlogenen Verhältnisse. Das Gerücht eines gespenstischen Gewaltaktes – irgendjemand demontiert und zerkleinert immer wieder kostbare Konzertflügel kunstsinniger Bankiers. Eine kuriose Geschichte von gestohlenen Mercedes-Sternen. Eine junge Frau, die als Serviererin arbeitet, aber auch Doktorandin ist. Die Rückkehr eines totgeglaubten NS-Generals, dessen Auftauchen die Lebensentwürfe der Frauen erschüttert. Ein fünfzehnjähriger jüdischer Erbe, der einen Millionendeal ausschlägt. Dazu die Kritik an der menschlich korrupten, immer reicher werdenden Konsumgesellschaft. Und dazwischen – mystisch, geheimnisvoll – der Rhein, in dem sich die Zeiten schichtweise überlagern und in den so manche gerne gehen würde. Und immer wieder die Frage der fünf Protagonistinnen:
Wohin sollen wir gehen? Weg aus Bonn?
Heinrich Bölls letzter Roman, erschienen wenige Wochen nach seinem Tod im Jahr 1985, ist weit mehr als ein guter Krimi-Plot. Es ist in erster Linie ein Buch über Erinnerung und die Gefahren des Vergessens. Der Ort der Handlung ist Bonn. Man könnte beim Lesen eine gewisse Ähnlichkeit mit der real existierenden Bonner Republik und ihren Protagonisten nachweisen, doch Böll vermied sorgfältig allzu deutliche Entsprechungen.
Stattdessen wollte er etwas Anderes. Er wollte ein System beschreiben und Bilanz ziehen aus vierzig Jahren Geschichte seit Kriegsende 1945. Im Zentrum stehen Frauen hochrangiger Politiker, melancholische Frauen, die ihre Männer verachten, und intelligente Vertreterinnen einer modernen, selbstbewussten Weiblichkeit mit Sinn für Realitäten.
Was diese Figuren miteinander verbindet, ist nicht der Plot einer Handlung, sondern ihr gemeinsamer Fluchtpunkt: ein abgründiger, teils verzweifelt, teils sarkastisch sich äußernder Gesellschaftsüberdruss, dessen Wurzeln zurückreichen bis ins Dritte Reich und in die Frühzeit der Ära Adenauer. Eine Zeit, in der laut Böll »die Kreise, die die größte Schuld am Heraufkommen der Nazis hatten, also Industrielle und Großbürgertum, auch der Adel, unbeschädigt den Krieg überstanden hatten, und ob sie Nazis waren oder nicht, das spielte plötzlich gar keine Rolle«.
Verwahrt in einem Sanatorium sollen die Frauen vergessen: den Krieg, die Trümmer, Elend, Flucht und Vertreibung. Sie sollen die Korruption vergessen, den Klüngel und Machtmissbrauch. Auch, dass das Land zwar nach außen regiert wird, aber von innen beherrscht vom – wie Böll es nennt – »Geldadel«. Und dass sie an all dem eine gewisse Mitschuld tragen, denn auch sie profitierten viele Jahre vom Aufschwung, den ihre Männer und Väter erwirkten. Was die Frauen verbindet, ist ihre Fähigkeit, über sich, über ihre Entwicklung und Befindlichkeit zu reflektieren. Und auch ihr gemeinsamer Wille zum Ausstieg, zur Verweigerung und zum Widerstand. Ihre Fragen nach dem »Wohin?« ist die Frage nach einer Alternative zum Ist-Zustand. Diesem Element der Alternative kommt im Roman starkes Gewicht zu. Ihre Basis ist das Vermögen, nicht zu vergessen. Dieses Vermögen ebnet den Weg zur Solidarisierung der Figuren und birgt ein Element der Verheißung, in der sich Veränderung anbahnt.
Text von Nadja Groß.