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Ein Plädoyer für Bonn

Mozarts Singspiel als gesungenes und gespieltes Volks-Theater über äußere und innere Befreiungen – Gedanken der Regisseurin Katja Czellnik auf der Bauprobe am Theater Bonn am 16. Dezember 2022.

Handlung als Vergegenwärtigung einer »alten«, brennend aktuellen Geschichte

Zu Mozarts Lebzeiten ist DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL sein größter Theatererfolg. Voller Ehrgeiz kommt er nach Wien, damals das Zentrum für Zeitgenössische Musik, um sich dort als Komponist einen Namen zu machen. Er kann sich gegen die Konkurrenz durchsetzen und erhält 1781 von Josef II. den Auftrag für ein »Teutsches Singspiel« als bewusstes Gegenstück zur vorherrschenden italienischen Oper. Zugleich soll mit diesem Stück »100 Jahre Sieg über die Türken« gefeiert werden. Der Titel der Vorlage lautet daher mit Fug und Recht: »Belmonte und Constanze oder Christentum gegen Islam.«.

Die Handlung spielt in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Wie man weiß, wurden Belmontes Braut Konstanze, ihre Zofe Blonde und sein Diener Pedrillo auf einem Schiff vor Spaniens Küste von Piraten entführt und in ein türkisches Serail verkauft – wichtig zu wissen: Das ist kein Harem, sondern ein offizielles Regierungsgebäude. Zur gleichen Zeit soll der »Seeweg nach Indien« gefunden werden. In Süd- und Mittelamerika entstehen Kolonien als neue wirtschaftliche Quellen. Und den Osmanen entgehen dabei Zölle. So verbünden sie sich im Gegenzug mit Piraten, um Europas Südküsten zu plündern. Gefangene werden freigekauft. Es kommt im Umfeld zu uns selbst heute noch schockierenden Ausbeutungen und Grausamkeiten in den Kolonien. Der Mönch Bartolomé de Las Casas macht die Gräueltaten der Konquistadoren in Westindien schonungslos in Europa bekannt.
Ohne vordergründige Aktualisierung:
Dass ein barbarischer Krieg jegliche Zivilisation im Kern bedroht, ob im 16. Jahrhundert oder heute, eine solche Tatsache macht vor dem Theater nicht halt, im Gegenteil!

Pro und Contra: ein unerbittlicher Fronten- und Kulturkampf

Der Stoff strahlt in jeder Pore die zur Schau getragene Überlegenheit des aufgeklärten westlichen Europas aus: gegen die vermeintlich gewalttätigen und primitiven muslimischen Barbaren. Die Kriege Europas gegen das sich ausbreitende Osmanische Reich ziehen sich dabei über mehrere Jahrhunderte hin. Im Laufe der Zeit entsteht eine zunehmende Durchmischung der Bevölkerung: sogenannte »Beute-Türken«. Weit verbreitet sind dementsprechende Flugblätter, Türkenlieder, Türkenpredigten, Türkenkopfstechen, türkische Dörrköpfe als Souvenirs fürs heimische Wohnzimmer, Abbilder türkischer Karikaturen im Stadtbild, beispielsweise Rauchköpfe als Schornsteine, groteske Skulpturen an Gebäuden, Türkenmadonnen an öffentlichen Plätzen. Nicht von ungefähr greift Mozart als Klangfolie (immer wieder fordert er: »Je lauter, je besser…«) begierig die Janitscharen-Musik auf und baut sie affektgeladen und effektsicher an Schlüsselstellen seiner Oper ein, nicht zuletzt ganz am Anfang und ganz am Ende. Die Erwartung des Publikums, sich mit einer Mischung aus Vergnügen und Grauen in bedrohlich-fremde Welten zu begeben, bedient Mozart auf nahezu allen Ebenen dieses Stückes.

Permanente Lust zur Verwandlung

Als koboldhafter Schabernack, der Mozart Zeit seines Lebens gewesen ist, versetzt er das Publikum gerne mit größter Lust in permanente Schockwechselbäder. Er lässt dabei die europäischen Vorurteile und Zerrbilder gegenüber der fremden, vermeintlich primitiven Kultur auf die Protagonisten selbst zurückfallen, indem er ihnen eine lange Nase zeigt und sie danach aus dem Äußeren der Kultur- und Glaubenskämpfe in eine Art inneres Serail schickt, als befände man sich bereits in Lewis Carolls ALICES ABENTEUER IM WUNDERLAND. Er liebt besonders den Wiener Hanswurst. In einer selbst komponierten Faschingspantomime tritt er erst als Harlequin, später als Türke auf.

Die Grenzen von Tragödie und Komödie bedingen einander: Je derber das Spiel als Spektakel und Klamauk anmutet (Karneval!), desto größer ist der Zwang, bislang völlig ungeahnte Nacht- und Schattenseiten in dieser unerbittlichen Konfrontation der Kulturen aufzudecken.

Straßentheater als ideales Mittel der Aufklärung

Die Lust zur Übertreibung und Improvisation ist ganz im Sinn der Dramaturgie des »Théâtre de la Foire«, des Pariser Jahrmarkttheaters, welches eine wichtige Vorlage zum »Teutschen Singspiel« bildet. Da werden auf Jahrmarktsbühnen mit großem Erfolg die Opern des Adels durch den Kakao gezogen. Es treten Tiere, Pantomimen, monsterartige Wesen auf. In den Themen- und Erlebnisbuden eröffnen sich dem Publikum anarchische Gegenwelten. Die Zensur sieht die Gefahr und schreitet mehr als einmal ein. Aber das Publikum liebt vor allem jene Vaudevilles, von denen – kein Zufall – eines die ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL beendet:
Man kennt damals im Publikum sehr gut die Melodie eines solchen »Schlagers« . Lebendiges Theater »von unten«.

Und »Wir« heute?

Man hat es bei der ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL an zahlreichen Stellen mit einem Stück jenseits der »Political Correctness« zu tun. Bei aller Begeisterung für die großartige Musik (das Werk ist voller fantastischer Arien, Duette, Ensembles, bei denen Vieles bahnbrechend neu ist:
»weil da ganz die Musick herrscht«, wie es sich Mozart wünscht) lautet die brennend aktuelle Frage für die Regie: Können wir »das« überhaupt spielen?
Zumal die weitere Recherche, etwa in Werken von angeblichen Vorreitern der Aufklärung wie Kant, Rousseau, Montaigne, immer deutlicher einen unverhohlenen und offenen Hass gegen Andersdenkende zutage gefördert hat. Für die Neuinszenierung ist es wichtig, das Stück »total« zu spielen, die »ganze Musick« in enger Verbindung mit den Situationen außen und innen.

 

Text von Katja Czellnik

 Um damit solch ein bewusst dialektisches Stück als essenziellen Teil einer bis heute zwiespältigen kulturellen Geschichte zu begreifen. Auch weil die Enttarnung des europäischen Rassismus im Zwielicht der Aufklärung im Stück selbst so tiefgründig verankert ist. Mozart nimmt solche »Unterwanderungen« in seiner Zeit bewusst wahr und verbindet dabei die Konflikte seiner Figuren in der Auseinandersetzung mit Eros und Tod untrennbar mit dem Widerstreit der Religionen und Kulturen. Die innere Befreiung (Liebe bis an die Grenzen der Todeserfahrung) provoziert die äußere Befreiung (die Entlarvung des Chauvinismus in der europäischen Aufklärung). Eines ist nicht zu haben ohne das andere. Das soll man in Bonn hören und sehen.

ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL | Premiere am SO, 17. SEP um 18 Uhr im Opernhaus