Magazin

Auf der ARCHETOPIA im Schauspielhaus Richtung Zukunft

© Bettina Stöß

 

 

Ein wahrhaft goldenes Büchlein, nicht minder heilsam als unterhaltsam, Von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia – So lautet der volle Titel eines Romans des Engländers Thomas Morus aus dem Jahr 1516. Bekannt geworden ist das Werk als UTOPIA und ist zugleich Namensgeber eines ganzen Literatur-Genres und einer eigenen Art und Weise des in die Zukunft gerichteten Denkens. Den Begriff Utopie schuf Morus dabei als Wortspiel aus den griechischen Vorsilben οὐ – auf Deutsch ›nicht‹ – sowie εὖ – ›gut‹, verbunden mit τόπος, Ort. Eine Utopie wird dabei sowohl als ein ‚Nicht-Ort‘ als auch ein ›guter Ort‹, eine Eutopie, verstanden. Bei Morus verbirgt sich dieser Ort auf einer weit entfernten, für die Menschen seiner – und wohl auch unserer – Zeit unerreichten Insel. Denn der Autor hat vergessen, in welchem Ozean sie sich befindet. Erzählt hatte es ihm ein Reisender, der das ideale Staatswesen auf einer Insel irgendwo jenseits des Äquators erlebt haben will.

»Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick«

© Bettina Stöß

Auch wenn das Staatssystem auf der Insel Utopia aus unserer heutigen Sicht erhebliche Mängel aufweist, beispielsweise werden Individualismus und insbesondere Geschlechtergerechtigkeit verkannt, legte Morus für zeitgenössische Verhältnisse doch eine direkte Kritik am europäischen Feudalsystem vor und vertrat frühsozialistische, teils sogar kommunistische Ideen.

Die Philosophen Theodor W. Adorno und Ernst Bloch blicken in einer berühmtem Radio-Diskussion 1964 auf Morus’ Werk und stellen fest, dass »die wesentliche Funktion, die Utopie hat, eine Kritik am Vorhandenen ist. Denn wenn wir die Schranke nicht schon überschritten hätten, könnten wir sie als Schranke nicht einmal rezipieren. Utopie ist die Negation dessen, was bloß ist, und das dadurch, dass es sich als ein Falsches darstellt, es immer zugleich hinweist auf das, was sein soll.«


Genauso wie Morus also die Herrschenden in der Renaissance kritisiert hat, rüttelt auch heute utopisches Denken am Status Quo – mit dem Unterschied, dass Morus es »verlegt auf eine Insel auf der fernen Südsee. Es ist fertig auf einer fernen Insel, nur ich bin nicht dort.« Die Utopistinnen und Utopisten des 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts sind es, »die es in die Zukunft legen. Wenn die Utopie in die Zukunft verlegt wird, bin ich nicht nur nicht dort, sondern es gibt diese Insel gar nicht«, so Adorno und Bloch. »Aber sie ist nicht etwa Nonsens oder schlechthin Schwärmerei, sondern sie ist ›noch nicht‹ im Sinn einer Möglichkeit, dass es sie geben könnte, wenn wir etwas dafür tun – nicht nur wenn wir hinfahren, sondern indem wir hinfahren, hebt sich die Insel Utopia aus dem Meer des Möglichen. Das ist selbst Utopie.«

© Bettina Stöß

Wir müssen also etwas tun, um eine Utopie Wirklichkeit werden zu lassen. Hier tut sich allerdings ein neues Problem auf, denn die eine Utopie gibt es nicht. Die Verwirklichung einer konkreten Utopie würde schließlich doch entweder totalitär werden, um die Unvollkommenheit des Menschen zu korrigieren. Oder sich mit einem unvollkommenen Zustand abfinden, aber dann kann sie wiederum nicht stattfinden. Welche Utopie fällt Ihnen ein, die nicht zur Perversion ihrer selbst wurde? Auch der Faschismus, der Kommunismus und der Kapitalismus waren einst Utopien, die sich zu monströsen Ideologien entwickelt haben.

 

Das Erstrebenswerte der Utopie bleibt aber ihr Grundgedanke, dass eine andere und bessere Welt möglich ist. Die Ausrichtung und Sehnsucht nach der Zukunft sind für sie wesentlich. Die Utopie spiegelt dementsprechend unsere Erkenntnis wider, in einer fehlerhaften Welt zu leben. Gerade diese Erkenntnis macht die Utopie unsterblich, denn entweder sie verwirklicht sich oder sie erfindet sich wieder neu.

© Bettina Stöß

In ARCHETOPIA begibt sich Hausregisseur Simon Solberg auf die Suche nach eben jenen Utopien, die sich immer wieder neu erfinden und erforscht mit dem Ensemble die positiven Narrative über die Welt, in der wir alt und unsere Kinder groß werden wollen. Denn Dystopien der Welt von morgen gibt es zuhauf: Klimakrise, soziale Ungleichheit und politische Instabilität – aber was ist mit den schönen Aussichten? Nach dem Erfolg von UNSERE WELT NEU DENKEN nach dem Sachbuch der Transformationsforscherin Maja Göpel, richtet sich der Blick nun weg von der Geschichte unseres neoliberal geprägten Denkens rund um den ›homo oeconomicus‹ und nach vorne in die Zukunft – nicht minder heilsam als unterhaltsam handelt ARCHETOPIA eben von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel ›Bonnopia‹.


Text von Jan Pfannenstiel 

Weiter zur Produktion ...