»Wie war einst das Glück so nahe!«
Tschaikowskijs EUGEN ONEGIN: Eine Oper über verpasste Chancen
»Die Oper EUGEN ONEGIN wird nie Erfolg erleben, ich weiß es jetzt schon. Ich werde nie die richtigen Künstlerinnen und Künstler finden, die nur annähernd meinen Vorstellungen entsprechen. Rückständigkeit, Borniertheit unserer großen Bühnen, sinnbefreite Inszenierungen, ein System, das alte Säcke in Schutz nimmt und die Jugend sitzen lässt – das alles macht die Realisierung meiner Oper auf der Bühne fast unmöglich. Ich würde viel lieber diese Oper an eine Hochschulbühne übergeben. Dieser Rahmen passt viel besser zu meinem bescheidenen Werk, das ich nicht mal als Oper bezeichnen werde, falls es gedruckt werden sollte. Ich würde es als »lyrische Szenen« betiteln oder sowas in die Richtung.«
Pjotr Tschaikowskij war zwar anfangs selbst von seiner Kühnheit überrascht, das zu seinen Lebzeiten beinah bekannteste Werk der russischen Literatur als Oper zu vertonen, verliebte sich aber schnell in diese Idee sowie in seine Figuren. Einige seiner Freunde protestierten, nachdem sie den Entwurf gelesen haben: Diese Geschichte sei nicht bühnentauglich, die Oper habe keine Handlung, die Musik sei nicht effektvoll. Tschaikowskij formulierte darauf eine klare Antwort: »Für keine Schätze dieser Welt würde ich eine Oper mit einer ähnlichen Geschichte wie bei Verdis AIDA schreiben, denn ich brauche Menschen und keine Puppen.«
Eine Oper ohne ein Liebesduett, ohne ein großes Chorfinale, ohne Bühneneffekte, ohne einen romantischen Helden, ohne einen Liebestod – ist das überhaupt eine Oper? Die zahlreichen Aufführungen zu Tschaikowskijs Lebzeiten haben bezeugt, dass der Komponist mit seinem ursprünglichen Urteil über sein Stück falsch lag. Die Geschichte von EUGEN ONEGIN ist in der Tat äußerst menschlich, aber es ist genau das, was diesen Stoff einzigartig macht und uns bis heute bewegt.
Olga und Tatjana Larina sind Schwestern, sie leben auf dem Land unter der Obhut ihrer Mutter. Olga, die jüngere, ist mit dem 18-jährigen Wladimir Lenskij verlobt. Lenskij ist mit dem ein paar Jahre älteren Eugen Onegin befreundet, der wegen der Krankheit seines Onkels übergangsweise aus der Hauptstadt zurück aufs Land ziehen muss. Lenskij und Onegin besuchen zusammen das Haus Larinas, und der neue Gast hinterlässt sofort einen starken Eindruck auf Tatjana, die ihm am gleichen Abend eine feurige Liebeserklärung schreibt – eine verrückte Geste – nicht nur für damals! Onegin weist sie kalt zurück, aber begleitet immerhin einige Tage später Lenskij zu Tatjanas Geburtstagsparty. Da ereignet sich ein Streit zwischen Onegin, der aus einem launischen Einfall und Langeweile heraus mit Olga flirtet, und dem daraufhin erzürnten Lenskij, der seinen besten Freund sofort zum Duell herausfordert. Durch Zufall stirbt Lenskij im Laufe des Duells, was Onegin dazu zwingt, das Dorf zu verlassen.
Ein paar Jahre später trifft Onegin in der Stadt wieder auf Tatjana und verliebt sich sofort in sie. Nun ist sie aber eine verheiratete Dame von Welt. Obwohl Tatjana seine Gefühle erwidert, will sie ihren Mann nicht betrügen und schickt Onegin fort. »Schlechtes Timing«, sagen wir heute.
»Wie war einst das Glück so nahe!«, schüttelt Tatjana am Ende den Kopf. Das Gefühl der Liebe, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, durchzieht das ganze Werk.
Eugen Onegin oder Tatjana Larina? Der Roman in Versen von Alexander Puschkin erschien 1833 unter dem Titel Eugen Onegin. Nach der Veröffentlichung wurde der Roman oft mit George Byrons epischer Dichtung Don Juan verglichen, allerdings steht im Gegenteil zu Byron Onegins Leben überhaupt nicht im Vordergrund des Romans. Dieser besteht zum größten Teil aus Skizzen und Beobachtungen über die verschiedensten Aspekte des gesellschaftlichen Lebens im Russland des 19. Jahrhunderts, enthält Stellen, die durchaus sarkastisch und spöttisch geschrieben sind und die manch eine private Meinung des Autors offenbaren und hat weder einen richtigen Anfang noch einen epischen Schluss.
Dabei liegen die wirklichen Sympathien Puschkins natürlich bei Tatjana Larina, was Tschaikowskij sofort spürt und musikalisch umsetzt. Der Liebesbrief, den Tatjana an Onegin verfasst, befeuert am meisten Tschaikowskijs Vorstellungskraft und wird so die erste Szene, die er komponiert. »Ich schmolz dahin und zitterte vor unaussprechlichem Vergnügen, während ich die Musik zu ONEGIN komponierte. Wenn der Zuhörer allein einen winzigen Teil davon empfinden würde, was ich beim Komponieren empfand, wäre ich äußerst glücklich.«
Für den Regisseur Vasily Barkhatov, der die Oper am Theater Bonn inszeniert, ist die Briefszene vielleicht das einzige Liebesduett in dieser Oper – allerdings zeitversetzt. Nicht ohne Grund wiederholt Onegin am Ende in seinem Liebeswahn den Text und die Melodie von Tatjanas Ansprache, während er sich selbst dieses Gefühl eingesteht. In seiner Regie folgt Barkhatov akribisch den musikalischen Ideen, die die Partitur enthält und erlaubt es dem Publikum, sich mit den Opernfiguren sofort zu identifizieren und mitzufühlen. Barkhatovs EUGEN ONEGIN ist ein Abend voller emotionaler Erschütterung und traumhaft schöner Bilder.
Text von Polina Sandler